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Evolution Ein interdisziplinäres Handbuch
Evolution
Ein interdisziplinäres Handbuch




Philipp Sarasin, Marianne Sommer (Hrsg.)

Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476022745 (ISBN: 3-476-02274-9)
433 Seiten, hardcover, 18 x 25cm, 2010, 15 s/w Abb., 1 Tabelle

EUR 49,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Evolutionstheorie gilt als die wichtigste wissenschaftliche Theorie der Moderne. Darwins »On the Origin of Species« von 1859 revolutionierte nicht nur die Biologie, sondern beeinflusst bis heute alle Felder des Wissens; dabei wird ihre Anwendbarkeit auf menschliche Gesellschaften fortgesetzt kontrovers diskutiert. Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über die historische und die aktuelle Evolutionstheorie in 4 Kapiteln und 67 Artikeln:

• Zentrale Konzepte und Begriffe

• Geschichte der Evolutionstheorie von der Naturphilosophie bis zur Molekularbiologie

• Wissenschaftliche Praktiken und Repräsentationsweisen

• Rezeption in Gesellschaft, Wissenschaften, Künsten
Rezension
Womöglich stellt die Evolutionstheorie, begründet in Charles Darwins Hauptwerk "On the Origin of Species" (1859), die bedeutende wissenschaftliche Theorie der Moderne dar. Sie beeinflußt bis heute alle Felder des Wissens, - nicht nur die Biologie. Dieses Handbuch dokumentiert umfassend die vielschichtige und unabgeschlossene Diskussion um die Evolutionstheorie in allen Bereichen des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wissens der Moderne. Evolution bleibt dabei ein noch immer unscharfer Begriff. Die heutige Biologie bestimmt die Evolution wesentlich anti-teleologisch als Prozess ohne vorherbestimmtes und vorherbestimmbares Ziel. Im Originalwerk verwendet Darwin hingegen den Begriff Evolution nicht ein einziges Mal; für Darwin war Abstammung das entscheidende Stichwort.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Resümee der aktuellen Debatten zur Evolutionstheorie
Geschichte: von der Naturphilosophie bis zur Molekularbiologie
Rezeption in allen Disziplinen: von Physik bis Kulturwissenschaften

Darwins Evolutionstheorie revolutionierte nicht nur die Biologie, sondern beeinflusst bis heute alle Wissensbereiche. Das Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Debatten. Es schildert ausführlich die Geschichte der Evolutionstheorie und geht auf ihre wissenschaftlichen Praktiken, Repräsentationsweisen und zentralen Begriffe ein. Zudem dokumentiert es ihre Rezeption in den Wissenschaften und den Einfluss auf Gesellschaft/Kunst.

Philipp Sarasin; Ordinarius für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Wissenschaften, der Körpergeschichte und der Theorie der Geschichtswissenschaft;
Marianne Sommer; Wissenschaftshistorikerin an der ETH Zürich und SNF-Förderungsprofessorin an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Lebenswissenschaften, insbesondere der biologischen Anthropologie.

Wichtigste wissenschaftliche Theorie der Moderne. Darwins Evolutionstheorie revolutionierte nicht nur die Biologie, sondern beeinflusst bis heute alle Wissensbereiche und wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Das Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Debatten. Es schildert ausführlich die Geschichte der Evolutionstheorie und geht auf ihre wissenschaftlichen Praktiken, Repräsentationsweisen und zentralen Begriffe ein. Zudem dokumentiert es ihre Rezeption in den Wissenschaften und ihren Einfluss auf Gesellschaft und Kunst.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort VII
Kurze Auswahlbibliographie XI

I. Konzepte, Begriffe und Begriffsgeschichte

1. Abstammung 3
2. Anpassung 5
3. Art 7
Altruismus ↑Egoismus, Altruismus
Auslese ↑Zuchtwahl
Bevölkerung ↑Population
4. Darwinismus 9
Drift ↑Gendrift
5. Egoismus, Altruismus 12
Embryologie ↑Entwicklung
6. Emotion 14
7. Entwicklung 16
8. Evolution 18
9. Fortschritt und Degeneration 20
Gen ↑Vererbung
10. Gendrift 23
Genealogie ↑Evolution
11. Genotyp und Phänotyp 25
Geschichte ↑Evolution
12. Geschlecht 27
13. Homologie 30
14. Instinkt und Intellekt 32
15. »Kampf ums Dasein« 33
Kultur ↑Natur, Kultur
16. Mensch (Rasse) 36
Mutation ↑Variation
17. Natur, Kultur 38
Ökologie ↑Umwelt
Optimality ↑Anpassung
18. Organismus 42
Pflanze ↑Organismus
Phänotyp ↑Genotyp und Phänotyp
19. Population 44
Rasse ↑Art; Mensch (Rasse); Variation
20. Reproduktion 47
Selektion ↑Zuchtwahl
Sexualität ↑Geschlecht; Reproduktion
Sorte ↑Variation
Spezies ↑Art
Stammbaum ↑Abstammung
Survival of the fittest ↑»Kampf ums Dasein«
Tier ↑Organismus
Überleben des Tüchtigsten ↑»Kampf ums Dasein«
21. Umwelt 50
22. Variation 52
Varietät ↑Variation
23. Vererbung 55
Vollkommenheit ↑Anpassung
24. Zuchtwahl 57
25. Zuchtwal, natürlicher 60
26. Zufall 60

II. Theorien und Debatten in der Biologiegeschichte

1. Evolutionstheorien vor Darwin 65
2. Theorien zur Entstehung der Arten bis um 1860 79
3. On the Origin of Species und die Evolutionsbiologie bis 1900 89
4. Genetik und Moderne Synthese 102
5. Jenseits des Neodarwinismus? Neuere Entwicklungen in der Evolutionsbiologie 115
6. Generelle Evolutionstheorie 126

III. Institutionen und Repräsentationen, Praktiken und Objekte

1. Sammlungen und Museen 141
2. Botanische und zoologische Gärten145
3. Vereine und Gesellschaften im 19. Jahrhundert 151
4. Printmedien im 19. Jahrhundert 156
5. Bilder 160
6. Feld, Beobachtung 167
7. Labor, Experiment 171
8. Datenbanken 175
9. Mathematik und Statistik 180
10. Fossilien 185
11. Modellorganismen 189
12. Gene 196

IV. Einflüsse, Verbindungen, Auswirkungen

IV.1. Evolutionstheorie in der Wissenschaft


1. Anthropologie 203
2. Astronomie und Kosmologie 211
3. Bionik/Ingenieurswissenschaften 219
4. Ethnologie 226
5. Geschichtswissenschaft 234
6. Informatik (Künstliche Intelligenz und Robotik) 243
7. Kultur und Kulturwissenschaften 252
8. Literaturwissenschaft 257
9. Ökonomik 267
10. Philosophie 273
11. Physik286
12. Psychologie und Psychiatrie295
13. Rechtswissenschaft 303
14. Soziologie und Sozialwissenschaften 313
15. Sprachwissenschaft 327

IV.2. Evolutionstheorie in der Gesellschaft

16. Ethik 341
17. Kreationismus und Intelligent Design350
18. Politik 358
19. Sozialdarwinismus, Rassismus, Eugenik/Rassenhygiene 366
20. Film 376
21. Kunst386
22. Literatur 394
23. Populäre Repräsentationen 402

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 415
Personenregister 417


Leseprobe:

1. Abstammung
Der Begriff bezeichnet allgemein die Herkunft von
Vorfahren und in der Biologie insbesondere die Annahme,
dass die gesamte organismische Mannigfaltigkeit
der Erde das Ergebnis einer stammesgeschichtlichen
Entwicklung (Phylogenie) ist (Lexikon
der Biologie 1999). Der Begriff ist gleichbedeutend
mit dem bis ins 20. Jahrhundert häufiger gebrauchten
Terminus »Deszendenz«. Obwohl »Deszendenz«
heute altmodisch klingt, ist die Gleichbedeutung
wichtig, denn sie belegt, dass wir mit »Abstammung«
dasselbe meinen wie Charles Darwin mit »descent«.
In Johann Christoph Adelungs umfangreicher Bestandsaufnahme
der deutschen Sprache wird für
»abstammen« die Bedeutung »herkommen, dem Geschlechte
nach, herstammen« angegeben mit den
Beispielen »Er stammt von hohen Ahnen ab. Wir
stammen alle von Adam ab«, und »Dieß Wort stammet
von keinem andern ab« (Adelung 1793, 113). Jakob
und Wilhelm Grimm bieten für »abstammen
(originem trahere)« die fast wortgleiche Definition,
erklären aber »abstammung (origo, abkunft)« als »die
abstammung aus einem lande« (Grimm/Grimm
1854, Sp. 125). Das könnte bedeuten, dass im Deutschen
bei »Abstammung« eine Bedeutung mitschwingt,
die dem englischen »descent« fehlt. Das
Oxford English Dictionary führt jedoch zahlreiche
Wortgebräuche für »descent« auf, darunter die für
die Evolutionsbiologie relevanten »7. a. The fact of
›descending‹ or being descended from an ancestor or
ancestral stock; lineage, b. transf. of animals and
plants; in Biol. extended to origination of species
(=…EVOLUTION)«, und »c. fig. Derivation or origination
from a particular source«. Das belegt, dass
»descent« im Englischen ähnlich changiert wie im
Deutschen »Abstammung«.
Für die deutsche Darwin-Rezeption ist es bezeichnend
und wichtig, dass Ernst Haeckel 1864 von der
»Entwickelungstheorie Darwins« spricht, August
Weismann 1902 »Vorträge über Descendenztheorie«
hält, Karl Camillo Schneider 1908 den »Versuch einer
Begründung der Deszendenztheorie« vorlegt, und
1922/24 Ludwig Plate seine zweibändige »Allgemeine
Zoologie und Abstammungslehre« veröffentlicht. Im
Handwörterbuch der Naturwissenschaften (1912) findet
sich kein Schlagwort »Abstammung«, wohl aber
ein 54 Seiten langer Eintrag aus der Feder Plates über
»Deszendenztheorie«, in dem ausgeführt wird: »Die
Deszendenztheorie oder Abstammungslehre ist ein
Teil der allgemeinen Entwicklungslehre (Evolutionslehre),
welche behauptet, daß alles auf der Erde in beständiger
Veränderung begriffen ist.« Dies mag zeigen,
wie die Vorstellung einer Abstammung der
Organismen zunehmend in die Gemeinsprache Eingang
gefunden hat.
Die heute gebräuchliche begriffliche Trennung
von »Entwicklung« (in Sinne von individueller Ontogenie)
und »Evolution« (im Sinne von phylogenetischer
Abstammung mit Modifikation) war zu Haeckels
Zeiten im Deutschen nicht vollzogen. Die
Vorstellung eines phylogenetischen Zusammenhangs
wurde zunächst durch ein Fremdwort – Descendenz
– wiedergegeben, das zuerst in der Schreibweise
»Deszendenz« phonetisch eingedeutscht und
schließlich durch das deutsche »Abstammung« ersetzt
wurde.
Zur allgemein gesellschaftlichen Akzeptanz des
Begriffs »Abstammung« mag neben einem allgemeinen
Trend zum Gebrauch der deutschen Sprache in
der Wissenschaft von ca. 1890 bis 1920 (Ammon
1992) auch die Popularisierung der Darwinschen
Evolutionstheorie durch Ernst Haeckel, und hier vor
allem der ungemein suggestive Einsatz des Bildes eines
Baums zur Darstellung von Abstammungsverhältnissen
beigetragen haben (Haeckel 1866 und
1868).
Die zentrale Folgerung aus Darwins »Descent
with Modification« taucht bei weitem nicht in allen
deutschsprachigen Quellen zur Evolution der Organismen
auf: Die heutige Vielfalt der lebenden Welt ist
entstanden, indem evolutionäre Linien (Arten) sich
spalteten. »Abstammung« bedeutet in der heutigen
Zeit primär »gemeinsame Abstammung«, das heißt,
heute getrennt existierende Organismengruppen gehen
auf gemeinsame Vorfahren zurück, aus denen sie
hervorgegangen sind, indem aus einer Art mehrere
wurden. Diese Vorstellung hat Darwin im Origin of
Species klar betont, sie spielt jedoch in Jean-Baptiste
de Lamarcks Philosophie zoologique kaum eine Rolle.
Schneider (1908) – wie fast die gesamte Sekundärliteratur
zu Darwin und Lamarck – behandelt beide
Werke als »Deszendenztheorien«. Das ist Lamarcks
Darstellung aber nur in dem Sinn des dritten
»Hauptproblems« der Abstammungslehre, das Plate
im Handwörterbuch der Naturwissenschaften nennt:
»das Problem der organischen Zweckmäßigkeit und
der allmählich zunehmenden Kompliziertheit in Bau
und Leistung im Laufe der Zeiten«. Lamarck ging davon
aus, dass zu jeder Zeit Lebewesen aus unbelebter
Materie entstehen, die sich im Laufe der Erdgeschichte
»höher« entwickelten (siehe Bowler 1984).
So sollten die heutigen Lebensformen auf zahlreiche
4 I. Konzepte, Begriffe und Begriffsgeschichte
unabhängige Urzeugungsvorgänge zurückgehen. Aus
jeder dieser Urzeugungen hätten sich nach Lamarcks
Vorstellungen unabhängige Linien von Organismen
– Generationenfolgen – entwickelt, die getrennt
voneinander, aber ungefähr parallel, immer komplexer
wurden. Den genauen Verlauf der Stufenleiter erklärte
Lamarck durch Gebrauch und Nichtgebrauch
von Organen und Vererbung der so erworbenen
Eigenschaften. Lamarck nahm nicht an, dass diese
Linien sich in größerem Umfang aufgespalten hätten.
Es muss wohl so etwas wie Artspaltung gegeben
haben, da nicht sämtliche existierende Arten aus je
eigenen Urzeugungen hervorgegangen sind. Aber die
höheren systematischen Einheiten, wie Stämme und
Klassen, sollten keine gemeinsamen Vorfahren besitzen.
Im Unterschied dazu hat Darwin den Vorgang
der Artspaltung mit der Konsequenz der Vermehrung
der Arten und der gemeinsamen Abstammung
sowohl in seiner berühmten Skizze »I think« (Notebook
B, 36; s. Abb. S. 163) als auch im einzigen Diagramm
im Origin of Species (nach Seite 116; s. Abb.
S. 70) einleuchtend illustriert und im Text ausführlich
beschrieben. Er hatte zwar keine klare Vorstellung
vom Mechanismus der Vererbung (wenn man
einmal von dem unbeholfenen Konzept der Pangenesis
absieht), ließ aber keinen Zweifel daran, dass
durch die Variabilität der Organismen diese sich an
unterschiedliche Umweltbedingungen anpassen können,
und auf diese Weise allmählich aus einer Ausgangsart
zwei oder mehr werden können. Dass für
diesen Vorgang die Entstehung von reproduktiver
Isolation Voraussetzung ist, war ihm völlig klar, auch
wenn er die Verhinderung von »intercrossing« nur
kurz erwähnt. Auf jeden Fall nahmen für Darwin alle
Lebewesen ihren Ursprung von einer einzigen Ausgangsform
(oder doch höchstens nur wenigen Formen),
wie er in einem der schönsten Sätze naturwissenschaftlicher
Prosa beschreibt: »There is grandeur
in this view of life, with its several powers, having
been originally breathed into a few forms or into one;
and that, whilst this planet has gone cycling on according
to the fixed laws of gravity, from so simple a beginning
endless forms most beautiful and most wonderful
have been, and are being, evolved« (1859, 490).
Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert war es entscheidend,
grundsätzlich die Veränderlichkeit der
Arten zu behaupten und zu belegen. Heute ist dieser
Umstand als selbstverständlich akzeptiert, sowohl
innerhalb wie außerhalb der Naturwissenschaft. Daher
ist im heutigen evolutionsbiologischen Sprachgebrauch
mit »Abstammung« stets ausdrücklich die
Herkunft verschiedener Organismengruppen von einem
gemeinsamen Vorfahren gemeint und nicht,
wie etwa in Schneiders Ansicht über Lamarck, nur
die Veränderung von Organismen innerhalb einer
Generationenfolge ohne Aufspaltung der evolutiven
Linie (phyletische Evolution, Anagenese).
In der Phylogenetischen Systematik (Hennig 1950)
werden nur solche Ordnungseinheiten (Taxa) zugelassen,
die alle Nachkommen(-arten) einer nur ihnen
gemeinsamen Stammart umfassen. Solche Gruppierungen
nannte Peter Ax (1984, 31) »geschlossene Abstammungsgemeinschaften
«. Im System werden
diese repräsentiert durch sogenannte monophyletische
Taxa oder Monophyla (siehe »Systematik«).
Es ist nicht unwichtig sich klarzumachen, dass das
Konzept von »Abstammung« in der Evolutionsbiologie
sich in einem wesentlichen Punkt vom Konzept
der genealogischen Abstammung im allgemeinen
Sprachgebrauch (aber auch in der Genetik) unterscheidet:
Nachkommen zweigeschlechtlich sich fortpflanzender
Organismen haben stets zwei Eltern,
vier Großeltern usw., d. h. je weiter man die Vorfahrenreihe
in die Vergangenheit verfolgt, desto umfangreicher
wird sie. In der Stammesgeschichte (Phylogenie)
der Organismen gehen jedoch stets mehrere
Taxa auf einen einzigen Vorfahren zurück, d. h. je
weiter man die Abstammungsgeschichte einer Anzahl
heute lebender (rezenter) Arten in die Vergangenheit
verfolgt, desto weniger Vorfahren-Arten
existierten zu jedem gegebenen Zeitabschnitt. Das
bedeutet, dass Ahnentafeln und Stammbäume genau
entgegengesetzte Projektionen darstellen, bzw. dass
die Zeitachse in den beiden Diagrammen entgegengesetzt
polarisiert ist.
Literatur
Adelung, Johann Christoph (17932): Grammatisch-kritisches
Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger
Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders
aber der Oberdeutschen. Bd. 1. Leipzig. Zit. nach:
Digitale Bibliothek [2004]. Bd. 40. Berlin.
Ammon, Ulrich (1992): »Deutsch als Wissenschaftssprache
«. In: Spektrum der Wissenschaft 1992: 117–124.
Ax, Peter (1984): Das Phylogenetische System. Stuttgart/
New York.
Bowler, Peter J. (1984): Evolution – The History of an Idea.
Berkeley u. a.
Darwin, Charles Robert: Notebook B: [Transmutation of
Species (1837–1838)]. Online im Internet unter: http://
darwin-online.org.uk [Stand: 16.3.2010].
Darwin, Charles Robert (1859): On the Origin of Species
by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured
Races in the Struggle for Life. London.
Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm (1854): Deutsches Wörterbuch.
Bd 1. Leipzig. Online im Internet unter:
2. Anpassung 5
http://germazope.uni-trier.de/Projects/DWB [Stand:
16.3. 2010].
Haeckel, Ernst (1866): Generelle Morphologie der Organismen.
2 Bde. Berlin.
Haeckel, Ernst (1868): Natürliche Schöpfungsgeschichte.
Berlin.
Handwörterbuch der Naturwissenschaften [1912]. Bd. 2.
Jena.
Hennig, Willi (1950): Grundzüge einer Theorie der phylogenetischen
Systematik. Berlin.
Lexikon der Biologie [1999]. Bd. 1. Heidelberg.
Oxford English Dictionary. Online im Internet unter:
http://dictionary.oed.com/[Stand: 16.3.2010].
Schneider, Karl Camillo (1908): Versuch einer Begründung
der Deszendenztheorie. Jena.
Michael Schmitt
2. Anpassung
Biologische Anpassung ist ein Prozess, bei dem sich
Organismen derart verändern, dass sie ihren Umweltbedingungen
besser angepasst sind und damit
einen höheren Fortpflanzungserfolg haben. Der Begriff
der Anpassung bezeichnet andererseits auch ein
bestimmtes Resultat dieses Prozesses. Eine Anpassung
in diesem Sinn ist ein Merkmal eines Organismus
(eine speziell ausgeprägte anatomische Struktur,
eine physiologische Funktion oder ein Verhaltensmuster),
das zum Überlebens- und Fortpflanzungserfolg
dieses Individuums beiträgt. Ein Organismus
besitzt viele solche Anpassungen, die in der
Fachliteratur auch als »Adaptionen« bezeichnet werden
(oder auch als »Adaptationen«, entsprechend
dem Englischen adaptations).
Die Tatsache, dass unterschiedliche biologische
Arten der für sie charakteristischen Lebensweise und
ihren Umweltbedingungen erstaunlich gut angepasst
sind, war schon seit Jahrhunderten bekannt. Zum
Beispiel argumentierte der englische Theologe und
Philosoph William Paley, dass die Existenz dieser
zweckmäßigen Merkmale nur durch die Annahme
eines planenden Schöpfers erklärt werden könne
(Paley 1802). Charles Darwin stimmte zu, dass es
eine zentrale Aufgabe der Biologie sei, die Existenz
von komplexen Anpassungen zu erklären; er behauptete
jedoch, dass diese Erklärung ohne Rückgriff
auf einen Schöpfer durch die Vorstellung eines
evolutionären Prozesses geliefert werde (Darwin
1859/2008). Und zwar bevorzuge die natürliche Selektion
diejenigen Individuen, die Merkmale besitzen,
die sie ihrer Umwelt besser angepasst machen, so
dass diese Merkmale in der nächsten Generation in
höherer Zahl vertreten sind. Über viele Generationen
hinweg führen diese schrittweise adaptiven Änderungen
zu komplexen Anpassungen. In der Biologie
nach Darwin setzte sich zwar der Abstammungsgedanke
durch, Darwins spezifische Selektionstheorie
hingegen blieb lange von geringer Durchschlagskraft.
Oft galt die Selektion lediglich als dafür
verantwortlich, dass unangepasste Merkmale aus Populationen
verschwinden, aber nicht für die Entstehung
neuer Merkmale und die Richtung der Evolution.
Die heutige Evolutionsbiologie hingegen erkennt
generell an, dass die natürliche Selektion den
historisch-evolutionären Prozess der Anpassung erklärt.
Von dieser evolutionsbiologisch relevanten Form
der Anpassung gilt es die sogenannte physiologische
Anpassung zu unterscheiden. Letztere ist eine zeitweilige
Anpassung eines Organismus an seine Umweltbedingungen,
z.B. eine Erhöhung der Körpertemperatur
oder der Herzschlagfrequenz. Das Resultat
einer solchen Änderung wird nicht vererbt. Die
Fähigkeit zur physiologischen Anpassung kann aber
eine evolutionäre Anpassung sein, da bei andauernd
wechselnden Umweltbedingungen die Fähigkeit zur
physiologischen Anpassung (oder auch zum Lernen)
vorteilhaft ist und von der Selektion bevorzugt werden
kann (West-Eberhard 1982).
Der Begriff der evolutionären Anpassung wird zudem
üblicherweise so gebraucht, dass er Merkmale
bezeichnet, die in der Vergangenheit angepasst waren
und deren Existenz durch natürliche Selektion historisch
zu erklären ist – unabhängig davon, ob dieses
Merkmal noch an die aktuellen Bedingungen angepasst
ist (Burian 1982). Zum Beispiel können
menschliche kognitive Prozesse evolutionäre Anpassungen
(an frühere Formen von Sozialleben) sein,
selbst wenn dieselben kognitiven Eigenschaften und
Emotionen in heutigen Gesellschaften teilweise zu
nichtadaptivem Verhalten führen. Darüber hinaus ist
zu beachten, dass sich im Laufe der Evolution die
Funktion und der Selektionsgrund eines Merkmals
ändern kann. Der Vorläufer von Insektenflügeln waren
kurze Körperauswüchse, die noch nicht dem
Fliegen dienen konnten, sondern (wie eine Hypothese
besagt) wahrscheinlich zum Zwecke der Körpertemperaturregulierung
durch die Selektion entstanden
sind. Erst später (als sie länger waren)
konnten die Körperauswüchse zum Gleiten benutzt
und schließlich für das Fliegen selektiert werden. Ein
solch funktionelles Merkmal, das für eine andere
Funktion entstanden ist, wird als »Exaptation« be6
I. Konzepte, Begriffe und Begriffsgeschichte
zeichnet. Exaptationen werden aber von manchen
EvolutionsbiologenInnen nicht als Adaptationen angesehen
(Gould/Vrba 1982).
Generell ist die bloße Aussage, dass ein Merkmal
eine Adaptation ist, weniger interessant als eine evolutionäre
Erklärung, die darlegt, wann in der Vergangenheit
das Merkmal welche funktionellen Eigenschaften
hatte und wie genau es sich in diesem
historischen Umweltkontext als vorteilhaft erwies.
Auch sind Organismen nie vollständig ihrer Umwelt
angepasst. Manche biologische Merkmale sind weitgehend
nichtadaptiv und ihr Vorkommen wird evolutionär
dadurch erklärt, dass sie aus weitervererbten
Vorläuferstrukturen entstanden sind, wie z.B. der
menschliche Blinddarm. Andere Merkmale sind
bloße Nebenprodukte von adaptiver Evolution.
Demgegenüber gehen Anhänger des Adaptionismus
davon aus, dass jedes Merkmal, das häufig in einer
Art ist, eine Adaptation darstellt.
Ein weiterer zentraler Begriff im Zusammenhang
der Anpassung ist die Fitness. Die Fitness eines biologischen
Merkmals (eines phänotypischen Merkmals
oder eines Gens) ist ein quantitatives Maß für
den Beitrag dieses Merkmals zum Fortpflanzungserfolg
eines Organismus (gemessen als die durchschnittliche
Anzahl der Nachkommen eines Individuums
mit diesem Merkmal). Eine Ausprägung
eines Merkmals (z.B. einer anatomischen Struktur)
weist also eine höhere Fitness als eine andere Ausprägung
desselben Merkmals (das in anderen Individuen
der Art vorkommt) auf, wenn Erstere von der
natürlichen Selektion bevorzugt wird. Anders ausgedrückt,
ein angepasstes Merkmal ist ein Merkmal mir
einer hohen Fitness.
Hierbei ist zu beachten, dass unsere intuitive Vorstellung
von »Angepasstheit« oft nicht mit der tatsächlichen
biologischen Fitness übereinstimmt.
Manche Fälle von sexueller Selektion machen dies
klar. Sexuelle Selektion ist die Konkurrenz um Fortpflanzungspartner
zwischen Individuen desselben
Geschlechts, wobei Männchen mit bestimmten körperlichen
Merkmalsausprägungen oder Verhaltensweisen
von den Weibchen ihrer Art bevorzugt werden
können. Der Schwanz von männlichen Pfauen
z.B., der sich durch äußerst lange und bunte Federn
auszeichnet, ist ein Produkt der sexuellen Selektion,
indem Pfauenweibchen in der Evolutionsgeschichte
Männchen mit dem »vollendetsten« Federschmuck
bevorzugten (aus welchem Grunde auch immer). Allerdings
beeinträchtigt ein solch aufwendiger Federschwanz
die Überlebenschancen von Männchen
deutlich, da sie u. a. eine leichte Beute für Raubtiere
sind. Intuitiv betrachtet, scheinen männliche Pfauen
also nicht besonders gut angepasst zu sein. Dennoch
erhöht der aufwendige Schwanz die Fitness der
Männchen, da er zur Partnerwahl und Fortpflanzung
notwendig ist. Ein anderes Beispiel ist das Geweih
des eiszeitlichen, mittlerweile ausgestorbenen
Riesenhirsches. Das enorme Geweih der Männchen
ist wahrscheinlich durch sexuelle Selektion entstanden,
selbst wenn es schließlich zum Aussterben der
ganzen Art geführt hat. Da der Pfauenschwanz und
das Riesenhirschgeweih die Fitness erhöhten und
von der Selektion bevorzugt wurden, betrachten
viele EvolutionsbiologenInnen diese Merkmale als
evolutionäre Anpassungen. Andererseits scheuen
sich manche BiologInnen, zur Fortpflanzung beitragende
Merkmale als Anpassungen oder als angepasst
zu bezeichnen, wenn sie nicht dem Überleben dienlich
sind (Gould/Lewontin 1979). Dies war auch der
Grund, warum Darwin den Begriff der sexuellen Selektion
( Geschlecht) von der natürlichen Selektion
(Zuchtwahl) unterschied (Darwin 1871/2009).
Des Weiteren können evolutionäre Anpassungen
auf allen Organisationsebenen vorkommen. Ein Beispiel
für eine Anpassung auf der genetischen Ebene
ist die meiotische Drift. Normalerweise hat bei Organismen
mit doppeltem Chromosomensatz jedes
Gen dieselbe Chance, in den Gameten (Eizellen und
Spermien) vertreten zu sein. Bei meiotischer Drift
schafft es ein Gen, diesen Prozess so zu beeinflussen,
dass es mit höherer Wahrscheinlichkeit in den Gameten
und damit in den nächsten Generationen vertreten
ist. Dieses Gen hat damit eine höhere Fitness
als andere Gene und verbreitet sich durch die natürliche
Selektion, selbst wenn die Funktion dieses Gens
den Organismus negativ beeinträchtigt. Deswegen
ist dieses die Gametenbildung manipulierende Verhalten
eine evolutionäre Anpassung eines Genes,
nicht jedoch eines Organismus. Dieser und andere
Fälle zeigen, dass die natürliche Selektion auf biologische
Einheiten auf verschiedenen Organisationsebenen
– Gene, phänotypische Merkmale, Organismen
und Gruppen von Organismen – wirkt und ein
selektiver Vorteil auf einer Organisationsebene ein
Nachteil auf einer anderen bedeuten kann. Der Begriff
der Anpassung kann sich also auf ein Merkmal
oder eine Verhaltensweise eines Genes, eines Organismus
oder einer Gruppe von Individuen beziehen.
Literatur
Burian, Richard M. (1992): »Adaptation: Historical Perspectives
«. In: Evelyn F. Keller/Elisabeth A. Lloyd (Hg.):
3. Art 7
Keywords in Evolutionary Biology. Cambridge (Mass.),
7–12.
Darwin, Charles (2008): Über die Entstehung der Arten im
Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung,
oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im
Kampfe um’s Daseyn [On the Origin of Species by
Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured
Races in the Struggle for Life, 1859]. Darmstadt.
Darwin, Charles (2009): Die Abstammung des Menschen
[On the Descent of Man, and Selection in Relation to
Sex, 1871]. Frankfurt a.M.
Gould, Stephen J./Lewontin, Richard C. (1979): »The
Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm:
a Critique of the Adaptationist Programme«. In: Proceedings
of the Royal Society of London B205: 581–598.
Gould, Stephen J./Vrba, Elisabeth S. (1982): »Exaptation: a
Missing Term in the Science of Form«. In: Paleobiology
8: 4–15.
Paley, William (1802): Natural Theology, or Evidences of
the Existence and Attributes of the Deity, Collected
From the Appearances of Nature. London.
West-Eberhard, Mary J. (1992): »Adaptation: Current Usages
«. In: Evelyn F. Keller/Elisabeth A. Lloyd (Hg.): Keywords
in Evolutionary Biology. Cambridge (Mass.), 13–
18.
Ingo Brigandt
3. Art
Der Begriff »Art« (Spezies) in der Biologie ist eine
Grundeinheit der Systematik. Eine allgemeine, sämtlichen
theoretischen und praktischen Erfordernissen
der Teildisziplinen genügende Definition ist nicht
festgelegt. Da die Teilgebiete ausgewählte Eigenschaften
der Organismen betrachten, heben ihre
nebeneinander geltenden Art-Konzepte jeweils Teilaspekte
hervor.
Typologisch-morphologischer Artbegriff
Der Artbegriff entwickelte sich aus den klassifizierenden
Begriffen genus und species der antiken Logik,
die Ober- und Unterbegriff in einer hierarchisch
strukturierten Begriffspyramide waren. Species
(griechisch eidos) als Idee, die den gesamten Wesensbestand
eines Seienden betraf, wurde auch metaphysisch
gedeutet. Zur Unterteilung der »beseelten Wesen
« bildete Platon Klassen der Wirbeltiere. Er und
Aristoteles betrachteten eine Art, auch die von Lebewesen,
als einen relativen Begriff, weil einheitliche
Kriterien wie Fertilität und Vererbbarkeit fehlten.
Der die wissenschaftliche Botanik begründende
Theophrastos von Eresos fasste eine Gruppe von geringfügig
variierenden Individuen als »Typos« mit
objektiver Realität auf. Eine Art wurde nach dem
Grad der Verschiedenheit morphologischer, auch
physiologischer und ökologischer Merkmale von
»ähnlichen« Individuengruppen bestimmt. Diese
Betrachtungsweise ergab, dass man ein zeitweiliges
»Ausarten«, z.B. von Getreidegräsern in Ackerunkräuter,
von der Antike bis zur Frühen Neuzeit für
möglich hielt. Seit dem Mittelalter drang, beeinflusst
durch die theologische Schöpfungslehre, die Annahme
einer Konstanz der Arten als gottgewollte Geschöpfe
in die Naturkunde ein. Sie wurde einerseits
durch die physikotheologische Naturdeutung und
andererseits durch die erneute Wirkung der
stoischen Naturphilosophie, welche die Unterschiede
von Gattungen und Arten auf die erschaffenen,
im Universum verbreiteten logoi spermatikoi
(lateinisch rationes seminales, u. a. bei Augustinus)
zurückführte, im 17. und 18. Jahrhundert unterstützt.
Die logischen Ordnungsbegriffe Gattung und
Art deutete Caspar Bauhin 1620 (Prodromos Theatri
Botanici) und 1623 (Pinax Theatri Botanici) als taxonomische
Kategorien mit in botanischen Artdiagnosen
definierbaren Merkmalen und binären Eigennamen.
Den Artbegriff bestimmte John Ray 1686
(Historia Plantarum I, Praefatio) genealogisch als
eine Gruppe von »Pflanzen, die vom gleichen Samen
abstammen und ihre Eigenart durch Aussaat wiederum
fortpflanzen […].« Indem er die genealogischen
Beziehungen zwischen den taxonomischen
Einheiten betonte, betrachtete Carl von Linné um
1735 die Familien von Pflanzen und Tieren als analog
zu menschlichen Sippen. Infolge des beträchtlich zunehmenden
Wissens über die Formenfülle der Floren
und Faunen auf der gesamten Erdoberfläche sowie
über Züchtungsergebnisse gelangte Linné ca.
1750 zu einem dynamischen Artkonzept: Aus Archetypen
(Urformen) sollten mittels natürlicher Hybridisierung
die heutigen Arten, denen eine objektive
Existenz zugestanden wurde, hervorgegangen sein.
Ihm folgten weitere Naturhistoriker, welche die Fähigkeit
zur »Erzeugung fruchtbarer Nachkommen«
als zusätzliches Kriterium zur Unterscheidung einer
Art anerkannten (Karl Illiger 1800; Georges Cuvier
1817). Eine Variabilität von Arten in gewissen
Grenzen unter Bildung von Rassen nahm der auch
geologische Langzeitveränderungen anerkennende
Georges-Louis Leclerc de Buffon an (ca. 1750). Er
stützte sich auf Ergebnisse von Kreuzungsexperimenten
mit Rassen und Arten von Wirbeltieren sowie
auf sein naturphilosophisches Konzept eines die
8 I. Konzepte, Begriffe und Begriffsgeschichte
Eigenschaften eines Organismus bestimmenden,
mittels physikalischer Kräfte (wie in Newtons Theorien)
wirkenden »inneren Modells« (moule intérieur).
Während besonders in Deutschland, beeinflusst
durch die idealistische Naturphilosophie, ein
typologisch-morphologischer Artbegriff weiterwirkte,
nach dem eine Art zeitweilig in gewissen
Grenzen als Abwandlung einer ideellen »Urform«
(vgl. Goethe) wahrnehmbar sein sollte, befestigte
Jean-Baptiste de Lamarck (Philosophie zoologique,
1809) durch seine Theorie einer Transformation der
Arten in langen Zeiträumen der Erdgeschichte infolge
von Veränderungen der Umwelt, auf welche die
Organismen durch erbliche Änderungen der Lebensgewohnheiten
und der Organe reagierten, ein dynamisches
Artkonzept. Daneben wird der typologische
Artbegriff zur Klassifikation von Organismen, von
denen nur wenige wahrnehmbare Merkmale bekannt
sind, in der taxonomischen Praxis sowie in der
Paläontologie bis zur Gegenwart angewandt. Dieses
Konzept ergänzt die Paläontologie durch ein chronologisches,
indem sie eine zeitlich dichte Folge von Populationen
mit morphologisch geringfügig variierenden
Individuen als Art auffasst.
Das biologische Artkonzept
Nach botanischen, zoologischen und paläontologischen
Forschungen in vielen Erdregionen seit ca.
1750 erkannten Naturforscher stammesgeschichtliche
Zusammenhänge zwischen rezenten und fossilen
Organismen. Deren Entstehung und die gleichzeitige
Zunahme der Mannigfaltigkeit der Gestalten und
Funktionen versuchte Charles Darwin, der nicht nur
Individuen, sondern Populationen betrachtete, 1859
mittels seiner Theorie einer phylogenetischen Entwicklung
zu erklären. Die in der Züchtungsforschung
nachgewiesene Variabilität der Spezies ließ
ihn Mechanismen, die einer »natürlichen Zuchtwahl
« (natural selection) entsprechen sollten, als
wirksam annehmen. Er beachtete also im Gegensatz
zu Linné und dessen Anhängern stärker die Möglichkeit
der Veränderung der Arten. Mitunter betrachtete
er jedoch das Artkonzept als »künstlich« und
hielt die innerhalb einer Population variierenden Individuen
sowie eine Transformation in geologischen
Zeiträumen für real. Darwins Erklärungen der Vervielfältigung
der Arten (Speziation) und der dabei
wirksamen Mechanismen blieben ebenso wie sein
Artkonzept unvollständig, da die Kenntnisse der Biologie
(z.B. über Genetik) noch mangelhaft waren.
Die Forschung über die Art als Population wurde
vernachlässigt zugunsten der experimentellen Untersuchung
der Vererbung an Individuen nach der
Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln 1900.
Erst seit den 1920er Jahren wurde das biologische
Artkonzept als populationsgenetisches weiterentwickelt,
während Probleme der Existenz und Entstehung
der Arten weiterhin erörtert wurden.
Eine Biospezies gilt als reale Einheit. Sie ist eine
Fortpflanzungsgemeinschaft mit einem gemeinschaftlichen
Genpool, die in einem bestimmten
Raum für eine gewisse Zeit existiert. Artbildung und
Artumbildung können bezüglich der geografischen
Verbreitung zweier Populationen durch deren Relation
zueinander definiert werden. Wenn zwei natürliche
Populationen in sich weit überlappenden Gebieten
ihre Identität als geschlossene Fortpflanzungsgemeinschaften
bewahren, wird der Zustand
Sympatrie genannt. Aus einer zusammenhängenden
Population können (u. a. bei geografischer Isolation)
zwei Kolonien ohne Hybridbildung in getrennten
Arealen entstehen (Allopatrie). Eine Gruppe natürlicher
Populationen, die sich untereinander kreuzen
und von anderen Gruppen reproduktiv isoliert sind,
kann man als eine Art betrachten. Das biologische
Artkonzept ist mitunter schwierig anzuwenden (z.B.
bei manchen geografisch isolierten Populationen sowie
bei jahreszeitlich unterschiedenen Generationen).
Es vermag sich asexuell fortpflanzende Organismen
wie Pilze, einige Pflanzen und Tiere nicht zu
erfassen. Für die Prokaryonten wie Bakterien, Viren
u. a. wurde die Existenz von natürlichen Populationen
überhaupt ausgeschlossen. Sie werden aber mittels
erst neuerdings bestimmbarer Eigenschaften wie
ihrer molekularen Ausstattung in biochemisch unterscheidbare
Gruppen eingeteilt.
Nach dem biologischen Artkonzept nennt man
Arten nicht-dimensional, die sich von an einem Ort
und zu derselben Zeit (sympatrisch und synchron)
nebeneinander vorkommenden Populationen aufgrund
morphologischer und physiologischer (z.B.
Reproduktion und Verhalten) Eigenschaften deutlich
unterscheiden lassen. Dieses Konzept wird durch
Taxonomen bevorzugt. Davon unterscheidet man
die multidimensionale Art, eine Gruppe von Populationen,
deren Individuen sich miteinander fortpflanzen,
aber nicht in demselben Raum und zu derselben
Zeit zusammenleben (allopatrisch und allochron).
Diesem Begriff fehlt die Objektivität. Dagegen
wird eine (monophyletische) Abstammungsgemeinschaft
aus einer oder mehreren Populationen in
einer bestimmten Zeitspanne nach dem phylogene4.
Darwinismus 9
tischen Artkonzept als Art betrachtet. Eine solche Art
kann sich verändern (phylogenetische Anagenese),
nachdem sie durch Artspaltung entstanden ist. Sie
endet, wenn alle Individuen aussterben oder wenn
durch Spaltung zwei neue Arten entstehen.
Literatur
Heuer, Peter (2008): Art, Gattung, System: Eine logischsystematische
Analyse biologischer Grundbegriffe. Freiburg
i.Br.
Mayr, Ernst (1967): Artbegriff und Evolution [Animal Species
and Evolution, 1963]. Hamburg/Berlin.
Mayr, Ernst (1970): Populations, Species, and Evolution.
Cambridge (Mass.).
Mayr, Ernst (1979): Evolution und die Vielfalt des Lebens
[Evolution and the Diversity of Life, 1976]. Berlin/Heidelberg/
New York.
Wilson, Robert A. (Hg.) (1999): Species – New Interdisciplinary
Essays. Cambridge (Mass.)/London.
Brigitte Hoppe
Altruismus  Egoismus, Altruismus
Auslese Zuchtwahl
Bevölkerung  Population
4. Darwinismus
Der Begriff des Darwinismus nimmt wie der des
Christentums für verschiedene Menschen ganz unterschiedliche
Bedeutungen an. Der Klarheit halber
sollte man zunächst zwei Bedeutungen unterscheiden:
den Darwinismus in einem wissenschaftlichen
Sinn und den Darwinismus in einem sozialen oder
kulturellen Sinn. Da die zweite Bedeutung in anderen
Artikeln dieses Bandes behandelt wird (vgl. vor
allem die Artikel in Teil IV des Handbuchs), wird sich
dieser Artikel auf den wissenschaftlichen Begriff
konzentrieren.
In seiner wissenschaftlichen Bedeutung muss der
Begriff des Darwinismus zunächst zur Idee der Evolution
allgemein (in einem biologischen Sinne verstanden)
erweitert werden und außerdem nach drei
Aspekten hin unterschieden werden: (a) Evolution
als Tatsache, (b) Evolution als Pfad und (c) Evolution
als Ursache oder Mechanismus.
(a) »Evolution als Tatsache« bezieht sich auf die
Behauptung, dass alle Organismen, lebende wie ausgestorbene,
Menschen eingeschlossen, als Ergebnis
am Ende eines langen, langsam verlaufenden, natürlichen
(d. h. gesetzmäßigen) Entwicklungsprozesses
stehen, der bei einigen wenigen einfachen Formen,
vielleicht sogar letztlich bei anorganischen Stoffen,
seinen Ausgang nahm. Obwohl er oft als geistiger Vater
der Evolutionstheorie angesehen wird, war
Charles Darwin, nicht der Erste, der an die Evolution
in diesem Sinn glaubte. Schon im Laufe des 18. Jahrhunderts
gab es Menschen, die von einer organischen
Evolution überzeugt waren (damals wurde
meist der Begriff »Transformation« verwendet), darunter
auch Charles Darwins Großvater, der Arzt
Erasmus Darwin. Im frühen 19. Jahrhundert wurde
die Evolutionstheorie des Franzosen Jean-Baptiste de
Lamarck bekannt.
Darwins großes Verdienst bestand darin, die Idee
der Evolution mit seinem Werk On the Origin of Species
(1859) zum Allgemeingut gemacht zu haben. Bis
dahin war die Evolution ein nachgeordnetes Phänomen
des kulturellen Konzepts des Fortschritts gewesen.
Entgegen der christlichen Vorstellung von der
Vorsehung – wonach wir alle Sünder sind und ohne
die Gnade Gottes nichts ausrichten können – hatten
im frühen 19. Jahrhundert immer mehr Denker und
Macher angefangen, die Idee des Fortschritts zu akzeptieren,
die Überzeugung, wonach allein durch
menschliches Denken und Bemühen ein Wandel
zum Besseren möglich ist. Der kulturelle Fortschritt
des Menschen wurde umgehend in eine evolutionäre
Form biologischen Fortschritts umgemünzt: vom
»Einzeller zum Menschen« lautete die Formel. Der
biologische Fortschritt wurde dann nicht selten in
zirkulärer Weise als Begründung für den kulturellen
Fortschritt herangezogen.
Obgleich Darwin wahrscheinlich von einem wie
immer gearteten biologischen Fortschritt ausging –
vom kulturellen Fortschritt war er sicherlich überzeugt
–, stellte er die Evolution auf eine ganz andere
Argumentationsbasis. Er setzte eine Art fächerförmig
angelegte Argumentation ein – methodisch als
eine »Übereinstimmung der Induktionsschlüsse«
(consilience of inductions) bekannt –, bei der er von
der Tatsache der Evolution als Hypothese ausging
und dann zeigte, wie diese Hypothese die Phänomene
über das gesamte biologische Spektrum zu erklären
vermochte. Fragt man etwa, warum die Fossilgeschichte
von älteren primitiven Formen (nach
ihrem Fundort in den Sedimentschichten zu urteilen)
bis zu Formen reicht, die von den heutigen
kaum mehr zu unterscheiden sind, dann ist Evolution
die Antwort. Fragt man, warum die Formen von
Schildkröten und Vögeln (Finken und Spottdros10
I. Konzepte, Begriffe und Begriffsgeschichte
seln) auf dem Galapagosarchipel ähnlich, aber nicht
identisch sind, ist wiederum Evolution die Antwort.
Und wie soll man sich die Tatsache erklären, auf die
Aristoteles schon Jahrhunderte vor Christus stieß,
dass sich nämlich die Knochenstrukturen der Vorderglieder
von Wirbeltieren wie Menschen, Pferden,
Maulwürfen und Vögeln überaus ähnlich sind, obwohl
sie unterschiedliche Funktionen haben? Sie ist
das Ergebnis gemeinsamer Vorfahren und der Beibehaltung
von Grundstrukturen über Jahrtausende des
Wandels – was Darwin »Abstammung mit Abwandlung
« nannte.
(b) Zu »Evolution als Pfad«, heute unter der Bezeichnung
Phylogenie bekannt, hatte Darwin wenig
beizutragen. Tatsächlich waren zu der Zeit, als On the
Origin of Species veröffentlicht wurde, die Grundrisse
der Abstammungsgeschichte bereits erkannt und begründet,
und zwar von Leuten, die die Evolution ablehnten.
Sie sahen den Verlauf der Fossilgeschichte
und deuteten ihn als etwas, was durch Gottes wunderbares
Eingreifen fortwährend in Gang gehalten
und schöpferisch gestaltet werde. Die Lücken im Fossilbericht
gereichten ihnen gar zum Beleg für massive
katastrophale Umwälzungen auf der Erde, denen
Zeiten göttlicher, formerneuernder Erschaffung gefolgt
seien.
Darwins wirklich schöpferische Arbeit fiel in die
späten 1830er Jahre. Bis zur Veröffentlichung von On
the Origin of Species (1859) galt seine Aufmerksamkeit
danach einer mehrjährigen Untersuchung der
Rankenfußkrebse. Er war ein heimlicher Evolutionist
und man kann deutlich erkennen, wie er über den
Evolutionspfad dieser Gruppe spekulierte, auch
wenn er nichts ausdrücklich darüber sagte. Zwölf
Jahre nach On the Origin of Species veröffentlichte
Darwin ein bedeutendes Werk über unsere Art: The
Descent of Man (1871). Er stellte darin Überlegungen
zu unserem Ursprung in Afrika an, das er Asien, das
zu der Zeit ebenfalls in der engeren Wahl war, vorzog.
Als Darwin an On the Origin of Species schrieb, sah
er sich dem großen Problem gegenüber, dass es keinerlei
Beweise für präkambrisches Leben gab. Die
Trilobiten und andere komplexere Organismen
tauchten ohne frühere Spuren auf. Darwin meinte, es
müsse frühere Lebewesen gegeben haben, doch sie
hätten dort gelebt, wo heute Meer sei, so dass wir
nicht erwarten könnten, Fossilien zu finden, und
selbst wenn wir die Gesteine ausgraben könnten,
würde sie der Druck des Meeres zur Unkenntlichkeit
zerrieben haben. Klugerweise sagte Darwin nichts
über den Ursprung des Lebens. Seine Veröffentlichung
kam gerade zu dem Zeitpunkt, als Pasteur in
Frankreich den Überlegungen zur spontanen Erzeugung
ein Ende bereitete, und Darwin schwieg sich
weise aus. Später mutmaßte er, das Leben könnte
vielleicht durch Blitzschlag in einen warmen kleinen
Teich entstanden sein, in dem sich die geeigneten
chemischen Stoffe befanden, stellte aber zugleich
fest, dass einmal begonnenes Leben jede weitere Erzeugung
von Leben wahrscheinlich verhindern
würde. Er äußerte diese Gedanken aber nur in einem
privaten Brief.
(c) »Evolution als Mechanismus« ist ein Paradox.
Heute feiern wir Darwin gerade für sein Denken zu
diesem Thema, aber zur Zeit der Veröffentlichung
von On the Origin of Species und noch siebzig Jahre
danach wurde sein Beitrag spöttisch belächelt und
ignoriert. Nachdem Darwin im Frühling 1837 Evolutionist
geworden war, mühte er sich 18 Monate
lang ab, einen Mechanismus zu finden. Er wollte der
Newton der Biologie werden und suchte deshalb
nach einer Kraft, die den organischen Wandel bewirken
konnte. Als erstes wurde ihm klar, dass Tier- und
Pflanzenzüchter Lebensformen höchst erfolgreich
verändern konnten, indem sie die erwünschten Eigenschaften
auswählten – fleischigere Schweine,
muskulösere Kühe und wolligere Schafe. Doch wie
sollte er zu einer natürlichen Form der künstlichen
Selektion gelangen?
Im Herbst 1838 las Darwin ein sehr konservatives
Werk des anglikanischen Geistlichen Thomas Robert
Malthus zur politischen Ökonomie. Dieser war wegen
der Kosten der Sozialfürsorge besorgt und argumentierte,
die Bevölkerungszahl werde das Nahrungsmittelangebot
potenziell immer übersteigen
und es werde infolgedessen einen Kampf ums Dasein
geben. Unsinnige Versuche staatlicher Unterstützung
würden das Problem nur verschlimmern. Darwin
stellte diese Argumentation auf den Kopf, indem
er die Ansicht vertrat, dass es in der gesamten Tierund
Pflanzenwelt einen solchen Kampf gebe, was bedeute,
dass nicht alle Organismen überleben und
sich fortpflanzen könnten, so dass nur ein paar – die
fitteren Exemplare – ihre Merkmale an die nächste
Generation weitergeben würden. Es gebe also eine
»natürliche Auswahl«.
Mehr noch, die Form des Wandels, zu der die Selektion
führt, wird diejenigen Merkmale ausprägen
und verbessern, die den Organismen im Kampf ums
Dasein zum Erfolg verhelfen. Organismen sind also
nicht zufällig zusammengewürfelt, sondern angepasst.
Sie haben scheinbar planvolle Merkmale, oder
um die Sprache der Philosophie zu verwenden (die
Darwin selbst gebrauchte), sie lassen »Zweckursa4.
Darwinismus 11
chen« erkennen. Der Glaube, dass es sich dabei um
einen grundlegenden Aspekt des Lebendigen handelt,
stammt, wie man anmerken sollte, nicht von
Darwin selbst. Er gab damit die Ansicht der Naturtheologie
wieder, wie sie insbesondere in den Lehrbüchern
des anglikanischen Archidiakons William
Paley zum Ausdruck kam, die er in seiner Jugend geradezu
verschlungen hatte.
Die natürliche Auslese (mit einer Variante, die als
sexuelle Auslese bekannt ist) spielt eine gewichtige
Rolle in On the Origin of Species. Als Darwin zur Embryologie
und den großen Ähnlichkeiten zwischen
Embryonen von sehr unterschiedlichen Arten – etwa
Menschen und Hühnern – Stellung bezog, argumentierte
er zum Beispiel, der Grund dafür sei, dass der
Kampf in den ersten Lebensjahren eines Organismus
nicht mit ganzer Wucht zu spüren sei, bei Erreichen
der Reife aber sehr hart sein könne. Embryonen
könnten folglich unverändert bleiben, auch wenn die
erwachsenen Exemplare getrennte Entwicklungen
durchmachen. Zur Stützung dieser These zeigte Darwin,
dass Tierzüchter auf Unterschiede erwachsener
Tiere abzielen und dass sich die Jungtiere hier ebenfalls
sehr ähnlich sein können – so bei Rennpferden
und Zugpferden.
Niemand wollte die natürliche Selektion rundheraus
leugnen, doch nur wenige glaubten, dass sie
zu leisten vermöchte, was Darwin behauptete. Deshalb
wurden andere Mechanismen vorgeschlagen,
darunter auch der Lamarckismus (die Vererbung erworbener
Eigenschaften) und der Saltationismus
(eine Evolution in Sprüngen, die wir als Makromutationen
bezeichnen würden). Es gab gute wissenschaftliche
Gründe für die Zurückhaltung. Darwin
konnte keine genaue Theorie der Vererbung vorweisen.
Er konnte nicht wirklich beobachten, wie eine
vorteilhafte neue Variation (Mutation) von Generation
zu Generation erhalten bleiben und weitergegeben
werden konnte. Kritiker wiesen zu Recht darauf
hin, dass eine solche Variation nach ein oder zwei
Generationen aus einer Population verdrängt würde,
ganz gleich wie vorteilhaft sie sein mag und wie erfolgreich
ihr Träger im Kampf wäre. Die Kritiker argumentierten
zudem fälschlicherweise (weil sie von
den Wärmewirkungen des radioaktiven Zerfalls
nichts wussten), die Erde könne für einen so langsam
verlaufenden Prozess wie die Selektion nicht alt genug
sein. Dieser Einwand konnte erst zu Beginn des
20. Jahrhunderts entkräftet werden.
Und eine neu entwickelte Theorie der Vererbung –
die Mendelsche Genetik – war erst in den 1930er Jahren
so weit vorangeschritten, dass Evolutionstheoretiker
erkennen konnten, wie die natürliche Selektion
den Wandel tatsächlich zustande bringen konnte
und (wie wir heute wissen) oftmals mit großer
Schnelligkeit. Damit konnte die Theorie von der Entstehung
der Arten auf einen neuen Stand gebracht
werden, bekannt als »Neodarwinismus« (ein britischer
Begriff, der auf die 1890er Jahre zurückgeht)
oder als »synthetische Evolutionstheorie« (die Synthese
von Darwinismus und Mendelismus), wie sie
heute in den USA genannt wird (vgl. die Artikel in
Teil II dieses Handbuchs).
Die Idee der Evolution hat sich – außer etwa bei
den Anhängern einer Strömung des amerikanischen
evangelikalen Christentums, des Fundamentalismus
oder Kreationismus – durchgesetzt. Heute wissen wir
nicht bloß dank der Entdeckungen von eindrucksvollen
Fossilien (wie einem Lucy genannten Australopithecus
afarensis, der ein affengroßes Gehirn besaß,
aber aufrecht ging), sondern auch aufgrund der
molekularen Information sehr viel über den Verlauf
der Evolution. Zur Entstehung des Lebens wird
ebenfalls ausgiebig geforscht. Und wie stehen wir
heute zum Mechanismus? Auf der molekularen
Ebene ist klar, dass eine Selektion oft fehlt und der
Zufall wirkt (molekulare Drift) – das ist die Basis der
sogenannten »molekularen Uhr«. Auf der Ebene des
Gesamtorganismus gibt es verschiedene Kandidaten
für den Rang des wichtigsten Evolutionsmechanismus.
In neuerer Zeit am bekanntesten ist der des Paläontologen
Stephen Jay Gould, der (in seiner Theorie
des »punktuierten Gleichgewichts«) die Auffassung
vertritt, die Fossilgeschichte zeige rasche Veränderungen,
die für die natürliche Auslese zu schnell
seien, weshalb wir die Darwinsche Annahme überdenken
sollten, dass Organismen universell Anpassung
aufweisen, im Sinne einer Zweckursache.
Zweifellos wird es Anfechtungen der Theorie von
der natürlichen Auslese geben, solange es die Forschung
zur Evolution gibt. Was wir sagen können,
ist, dass heute fast alle Vertreter der Evolution, die
sich mit deren Ursachen befassen, die natürliche Selektion
als eine solche ansehen und dass sie nach wie
vor ein starkes Instrument der Forschung ist. Allein
schon aus diesem Grund ist der Darwinismus (im
Sinn des Überzeugtseins von der Evolution und der
natürlichen Selektion als Hauptmechanismus des
Wandels) eine erfolgreiche Methode des Verstehens.
Literatur
Ruse, Michael (1996): Monad to Man. The Concept of Progress
in Evolutionary Biology. Cambridge.
12 I. Konzepte, Begriffe und Begriffsgeschichte
Ruse, Michael (19992): The Darwinian Revolution. Science
Red in Tooth and Claw [1979]. Chicago.
Ruse, Michael (2006): Darwinism and its Discontents.
Cambridge.
Ruse, Michael (2007): Charles Darwin. Oxford.
Michael Ruse (Übersetzung: Karin Wördemann)
Drift  Gendrift
5. Egoismus, Altruismus
Als evolutionsbiologische Begriffe haben Altruismus
und Egoismus heute eine andere Bedeutung als im
gewöhnlichen Sprachgebrauch. Selbst wenn sie auf
menschliches Verhalten angewendet werden, haben
Altruismus und Egoismus im biologischem Sinne
nichts mit der persönlichen Absicht (oder gar der
moralischen Bewertung) einer Handlung zu tun.
Vielmehr bezeichnen sie allein den biologischen Effekt
einer Handlung, genauer gesagt deren Auswirkung
auf die Fortpflanzungsrate von Organismen.
Die Fitness eines Organismus ist ein quantitatives
Maß der Fortpflanzungschance, definiert als die (erwartete)
Anzahl der Nachkommen dieses Organismus.
Eine Verhaltensweise eines Individuums ist
egoistisch, wenn sie dessen Fitness erhöht. Hingegen
ist die Verhaltensweise altruistisch, wenn sie die Fitness
von einem (oder mehreren) Artgenossen erhöht,
dabei aber die Fitness des sich so verhaltenden
Individuums reduziert. Altruismus in diesem Sinn
gibt es selbst in Arten mit sehr primitivem Sozialverhalten,
wo altruistisches Verhalten nicht durch Emotionen
(z.B. Sympathie) oder bewusstes Handeln
hervorgebracht wird.
Das Vorkommen von biologischem Altruismus
stellt eine ernsthafte Herausforderung für die Evolutionsbiologie
dar. Denn bei der natürlichen Selektion
setzen sich diejenigen Organismen durch, die eine
höhere Fitness (und somit mehr Nachkommen) als
ihre Artgenossen haben. Ein Individuum, das eine
einzelne altruistische Verhaltensweise besitzt und damit
seine Fitness zugunsten anderer reduziert, hat
definitionsgemäß eine niedrigere Fitness als ein Artgenosse,
der sich egoistisch verhält. Da die Selektion
der klassischen Darwinschen Theorie gemäß egoistisches
Verhalten gegenüber altruistischem Verhalten
bevorzugt, scheint die Evolution von Altruismus
kaum erklärbar zu sein, obwohl Altruismus offenkundig
bei allen möglichen Tierarten vorkommt.
Charles Darwin erkannte dieses Problem schon bei
der Formulierung seiner Selektionstheorie (Darwin
1859/2008). Zum Beispiel gibt es bei Bienen und vielen
anderen Insektengruppen sterile Arbeiterinnen.
In einem Bienenvolk ist die Königin das einzige
Weibchen, das sich fortpflanzen kann. Die Arbeiterinnen
tragen durch Honigsammeln und Brutpflege
zur Fortpflanzung der Königin bei – eine extreme
Form des Altruismus, da die Fitness der Arbeiterinnen,
verstanden als Individuen, gleich null ist.
Darwin hat diese und andere Formen von Altruismus
durch eine Art von Selektion erklärt, die heutzutage
als Gruppenselektion bezeichnet wird. Beim
Standardmodell der Individualselektion sind Individuen
die Einheiten der Selektion, d. h. die Selektion
bevorzugt einzelne Individuen (mit vorteilhaften
phänotypischen Merkmalen einschließlich Verhaltensmustern)
gegenüber anderen Individuen. Bei der
Gruppenselektion hingegen sind Gruppen von Individuen
die Einheiten der Selektion, wobei die Selektion
manche Gruppen (mit vorteilhaften Gruppeneigenschaften)
gegenüber anderen Gruppen bevorzugt.
In einer Gruppe von Artgenossen, in denen die
meisten Altruisten sind, gibt es weniger gewaltsame
Konkurrenz und mehr soziale Kooperation als in einer
Gruppe mit vielen Egoisten, weswegen Altruistengruppen
weniger leicht zugrunde gehen und
mehr Nachkommen haben, die später neue Nachfahrengruppen
bilden (auch zumeist aus Altruisten bestehend).
Altruistengruppen haben sozusagen eine
höhere Gruppenfitness als Egoistengruppen, und der
Anteil von Altruistengruppen innerhalb einer Art
nimmt zu, so dass Altruismus durch die Selektion gefördert
evolvieren kann. Im 20. Jahrhundert hat Vero
C. Wynne-Edwards (1962) die Theorie der Gruppenselektion
ausdrücklich vertreten.
Ein ernsthaftes Problem für dieses Modell der
Gruppenselektion besteht jedoch darin, dass gleichzeitig
Individualselektion stattfindet (Dawkins 1976/
2006). Innerhalb einer Gruppe von Altruisten hätte
also ein Egoist (der z.B. durch Mutation entsteht) einen
enormen Fitnessvorteil, da er alle anderen ausnutzen
könnte, selber aber altruistisch behandelt
würde. Es wäre daher anzunehmen, dass der Anteil
von Egoisten innerhalb der Gruppe durch Individualselektion
in wenigen Generationen zunähme, so
dass die Gruppe schließlich keine Altruistengruppe
mehr wäre, die von der Gruppenselektion bevorzugt
werden könnte. Dieser Einwand ist gewichtig: Heute
ist zwar anerkannt, dass Gruppenselektion vorkommt,
diese aber nur in manchen Fällen einfluss5.
Egoismus, Altruismus 13
reich ist, z.B. bei geeigneter Gruppengröße und Rate,
mit der eine Gruppe sich in Nachkommengruppen
aufteilt (Sober/Wilson 1988).
Einen anderen Ansatz zur Erklärung der Evolution
von Altruismus liefert die Genselektion. Hierbei
werden Gene als Einheiten der Selektion gesehen,
wobei einzelne Gene gegenüber anderen bevorzugt
werden und sich in einer Art verbreiten. Für die Idee
der Genselektion waren schon die mathematischen
Modelle der um 1930 entstandenen Populationsgenetik
relevant. Seit 1960 wurden populationsgenetische
Modelle auch zur evolutionären Erklärung von
tierischem Verhalten angewandt, woraus die biologische
Disziplin der Soziobiologie entstand, d. h. jenes
Teilgebiet der modernen Evolutionsbiologie, das sich
mit Verhalten befasst. Die Idee der Genselektion
wurde zuerst ausdrücklich von George C. Williams
(1966) im Rahmen einer Kritik der Gruppenselektion
propagiert und später durch Richard Dawkins
(1976/2006) popularisiert.
Bei der Genselektion wird nicht der Fortpflanzungserfolg
eines Individuums (oder einer Gruppe)
betrachtet, sondern die Fitness eines Gens. Unter anderem
kann die Genselektion die Evolution von altruistischem
Verhalten gegenüber nahen Verwandten
erklären. Denn nahe verwandte Artgenossen
haben viele Gene gemeinsam, die sie von ihren Vorfahren
ererbt haben. Ein Gen, das den Trägerorganismus
zu altruistischem Verhalten gegenüber nahen
Verwandten bringt, führt zu einer höheren Fortpflanzungsrate
dieser Verwandten, die mit einer großen
Wahrscheinlichkeit auch dieses Gen haben. Auf
diese Weise wird das Gen indirekt (durch die Fortpflanzung
der Verwandten) verbreitet, selbst wenn
sich der altruistisch verhaltende Trägerorganismus
nicht fortpflanzt. Zusätzlich zur gewöhnlichen Reproduktion
schließt die Fitness eines Gens also auch
die Verbreitung von Kopien des Gens in anderen Artgenossen
mit ein. Daher gibt es Fälle, in denen die
Fitness eines Gens, das altruistisches Verhalten gegenüber
Verwandten hervorbringt, höher ist als eines
Gens, das zu egoistischem Verhalten führt. Obzwar
das Verhalten aus der Sichtweise des Individuums altruistisch
ist, ist es aus der Perspektive des Gens eine
egoistische Strategie, die dessen Fitness erhöht, so
dass dieses Gen durch die natürliche Selektion verbreitet
wird (Dawkins 1976/2006). Diese Erklärung
der Evolution von Altruismus wurde von William D.
Hamilton (1964) erdacht und ist unter der Bezeichnung
kin selection (Verwandtenselektion) bekannt
geworden. Selbst die Evolution von sterilen Arbeiterinnenbienen
– ein extremer Fall von Altruismus –
kann auf diese Weise erklärt werden, da Bienen eine
außergewöhnliche Genausstattung haben. Während
Männchen einen einfachen Chromosomensatz besitzen,
verfügen alle Weibchen über einen doppelten
Chromosomensatz. Daher hat eine Arbeiterin mehr
Gene mit einer ihrer Schwestern (einer Tochter der
Königin) gemeinsam (75 %), als die Arbeiterin mit
ihrer Tochter hätte, wenn sie sich fortpflanzen würde
(50 %). Deswegen bevorzugt die Selektion ein Gen,
das Arbeiterinnen von der Fortpflanzung abhält und
sie anstelle dessen zur Kooperation mit ihren Bienenvolkschwestern
veranlasst.
Allerdings kommt auch altruistisches Verhalten
vor, das nicht bloß zum Vorteil von nahen Verwandten
ist. Dies kann oft durch das Modell des reziproken
Altruismus erklärt werden. In diesem Fall wird
einem Artgenossen in der Erwartung Altruismus gewährt,
dass dieser später ebenfalls altruistisch handelt,
wie etwa im Falle der gegenseitigen Fellpflege
bei Primaten, oder auch bei Vampirfledermäusen,
die ihre Blutmahlzeit mit Gruppengenossen teilen,
welche während der Nahrungssuche diesmal erfolglos
waren. Reziproker Altruismus setzt voraus, dass
Individuen einer Art sich merken können, welche ihrer
Artgenossen sich altruistisch verhalten haben.
Wer nie teilt und immer nur egoistisch handelt, wird
aus der Gruppe ausgestoßen – die reinen Egoisten
können sich hier nicht durchsetzen. Da, mit anderen
Worten, beim reziproken Altruismus jeder Beteiligte
profitiert, kann diese Art von Altruismus durch die
natürliche Selektion evolvieren (Rosenberg 1982).
Die Evolution von manchen biologischen Merkmalen
lässt sich sowohl aus der Sichtweise der Gene
als auch aus der Perspektive des Individuums (oder
der Gruppe) erklären. Vertreter der Genselektion
machen die kontroverse Behauptung, dass in solch
einem Falle eine Erklärung auf genetischer Ebene
stets zu bevorzugen ist (Williams 1966). Allerdings
ist zunehmend anerkannt, dass die Selektion auf
mehreren Ebenen gleichzeitig wirkt und auch so zu
beschreiben ist (Okasha 2007; Sober/Wilson 1988).
Im Gegensatz zum traditionellen Fokus auf Konkurrenz
und egoistische Individuen/Gene gibt es auch
neuere Modelle, die die Evolution von tierischem
Verhalten mit starkem Rückgriff auf soziale Kooperation
erklären (Roughgarden 2009).