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Ethnie, Bildung oder Bedeutung? Zum Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik
Ethnie, Bildung oder Bedeutung?
Zum Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik




Dorothee Barth

Wißner-Verlag
EAN: 9783896396259 (ISBN: 3-89639-625-0)
229 Seiten, paperback, 17 x 24cm, Dezember, 2007

EUR 25,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Frage, wie eine Verständigung zwischen verschiedenen (nicht nur musikalischen) Kulturen pädagogisch zu gestalten sei, ist brisant und wichtig. Eine plausible Antwort gilt zu Recht als eine Grundvoraussetzung für das künftige Wohlergehen unserer Gesellschaft. Doch was ist eigentlich eine "Kultur"? Ist die Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund "zu einer Kultur gehören", ursächlich dafür, dass sie im deutschen Bildungssystem benachteiligt werden? Taugt der Kulturbegriff zur Beschreibung von Musikstücken, die sich in einer globalisierten und transkulturell verfassten Welt längst aus unterschiedlichen musikalischen Traditionen speisen? Dorothee Barth geht den Verwendungsweisen des Kulturbegriffs in Theorie und Praxis interkulturell orientierter Musikpädagogik nach. Sie ordnet die jeweiligen Implikationen und Traditionslinien in historische Kontexte ein, zieht Verbindungen zu zahlreichen anderen Wissenschaftsdisziplinen und analysiert vorhandene Unterrichtsmaterialien. Um Problemen einer unscharfen und mehrdeutigen Verwendungsweise des Kulturbegriffs in der interkulturell orientierten Musikpädagogik zu begegnen, entfaltet die Autorin einen "bedeutungsorientierten" Kulturbegriff. Auf seiner Basis können Möglichkeiten der musikalisch-ästhetischen Wahrnehmung von allen Kindern und Jugendlichen gleichermaßen beschrieben und pädagogisch fruchtbar gemacht werden.

Dorothee Barth, geb. 1964, ist Lehrerin an einem Gymnasium in Hamburg-Altona. Sie studierte in Köln und Berlin Musik, Latein, Erziehungswissenschaften und Philosophie sowie Diplom-Musikerziehung. Sie arbeitet im Bundesvorstand des Arbeitskreises für Schulmusik, ist Dozentin in der Lehrerfortbildung und Autorin zahlreicher Artikel. Ihre Arbeit entstand an der Universität Hamburg, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Seit ihren musikpädagogischen Studienreisen nach Norwegen und in die Türkei und nach ihren schulpraktischen Erfahrungen in Berlin Kreuzberg, Neukölln und Hamburg Altona hat sie die Frage nach dem Zusammenleben verschiedener Kulturen nicht mehr losgelassen.
Rezension
Der Musikunterricht hat auch heutzutage seine inhaltlichen Schwerpunkte meist im traditionellen Werkkanon der europäischen Musikkultur. Darin kommt allerdings die musikkulturelle Erfahrungswelt Jugendlicher kaum vor. Musiklehrer haben zwar gelernt, ein klassisches Kunstwerk zu vermitteln, kennen aber in der Regel keine interkulturellen Konzepte oder Methoden. Vor allem können die meisten Lehrer nicht souverän und angemessen mit der besonderen Lage von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund umgehen.

Die musikpädagogische Auseinandersetzung mit der Interkulturalität stagniert inzwischen weitgehend, nachdem in den 1990er Jahren mehrere Materialien zur Unterrichtspraxis und wissenschaftliche Publikationen erschienen sind. Denn Themen wie PISA, die „Bastian-Studie”, Leistungsstandards oder Bildungskanon scheinen wichtiger geworden zu sein.

Dorothee Barth hat mit ihrer Dissertation zum Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik dieses Thema wieder in die aktuelle Diskussion eingebracht. In ihrer Arbeit setzt sie sich mit dem Kulturbegriff auseinander, sie schafft so die notwendigen theoretischen Grundlagen und eröffnet zudem neue Perspektiven für die Unterrichtspraxis. Als erfahrene Lehrerin, die an einem Hamburger Gymnasium Musik und Latein unterrichtet, kennt die Autorin die Probleme der Unterrichtspraxis zur Genüge. Die von ihr dargestellte interkulturelle Musikpädagogik auf der Basis des „bedeutungsorientierten Kulturbegriffs“ möchte an der Entwicklung der Fähigkeit zur musikalisch-ästhetischen Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen arbeiten – egal um welche Musik es sich dabei handelt. Am Beispiel von Kindern und Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund verdeutlicht sie, wie stark deren musikalische Vorlieben durch ihre spezifische Migrationssituation beeinflusst sind.

Wer sich die Zeit nimmt, diese überzeugende und sehr verständlich dargestellte wissenschaftliche Abhandlung zu lesen, wird viele neue Erkenntnisse über seine eigene Vorstellung von „der Kultur“ oder „den Kulturen“ gewinnen. Zwar wird man keine konkreten Vorschläge für die Praxis des Musikunterrichts finden, die man am nächsten Tag direkt umsetzen kann. Aber viel wichtiger für die Lehrer (auch wenn sie nicht nur Musik unterrichten) erscheint mir die Ermutigung, das „Wagnis der Interkulturalität“ einzugehen. Dorothee Barth empfiehlt als Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie den fremden Musiken gegenüber: „dass man den Rollentausch vom Alles-besser-wissen-Müssenden zum Genau-Beobachtenden und Gute-Fragen-Stellenden zu ertragen lernt und dass man sich immer mehr als Forschenden und Lernenden denn als ausschließlich Lehrenden sieht“.

Empfehlenswert für jeden(Musik-)Pädagogen!

Beate Forsbach, Lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Danksagung 9

1. Einleitung 11
1.1 Von der Notwendigkeit einer interkulturell orientierten Musikpädagogik 11
1.2 Kultur?! 12
1.3 Gegenstand und Ziel der Arbeit 15
1.4 Zur Methode: der Kulturbegriff als Deutungsmuster 18
1.5 Gegenwärtiger wissenschaftlicher Kenntnisstand 20
1.5.1 Musikpädagogik 20
1.5.2 Musikwissenschaft 21
1.5.3 Erziehungswissenschaft 22
1.5.4 Ethnologie/Kulturanthropologie 25
1.5.5 Sozialwissenschaften 26
1.6 Literatur- und Quellenlage 26
1.7 Vorgehen und Gliederung 29
1.8 Ergänzende Anmerkungen 31

2. Der normative Kulturbegriff 33
2.1 Zum Verhältnis von Interkulturalität und Normativität 33
2.1.1 Eine Einleitung mit zwei Thesen 33
2.1.2 Zum Aufbau des Kapitels 40
2.2 Zur Geschichte des normativen Kulturbegriffs 42
2.3 Der normative Kulturbegriff in der Musikpädagogik 45
2.3.1 Anthropologische Grundlegungen eines subjektorientierten Verständnisses von Kultur 46
2.3.1.1 19. Jahrhundert: Das Singen als menschliches Grundbedürfnis 47
2.3.1.2 Subjektive Musikkultur als „Hörkultur" 49
2.3.2 Kunstwerkorientierung als Folge eines objektorientierten Verständnisses von Kultur 50
2.3.3 Exkurs: Der normative und kunstwerkbezogene Kulturbegriff in den Musikwissenschaften 53
2.4 Nachweis des normativen und kunstwerkorientierten Kulturbegriffs in musikpädagogischen Texten 56
2.4.1 Analyse des Kulturbegriffs in kunstwerkorientierten Materialien und Konzeptionen 57
2.4.2 Merkmale eines normativen und kunstwerkorientierten Kulturbegriffs 68
2.4.3 Der normative und objektorientierte Kulturbegriff in Materialien zur interkulturellen Kunstmusik 69
2.5 Zusammenfassung: Probleme und Chancen eines normativen Kulturbegriffs 81

3. Der ethnisch-holistische Kulturbegriff 87
3.1 Zum Verhältnis von Interkulturalität und Ethnologie 87
3.1.1 Eine Einleitung mit zwei Thesen 87
3.1.2 Zum Aufbau des Kapitels 92
3.2 Zur Geschichte des ethnisch-holistischen Kulturbegriffs 94
3.2.1 Die Wurzeln bei Herder 94
3.2.2 Die kulturelle Begründung des Nationalstaates in Deutschland 96
3.2.3 Zwei Prämissen des Kulturbegriffs in ethnologischen Ansätzen 99
3.2.3.1 Konstituierung des Forschungsobjektes 100
3.2.3.2 Reflexion des Beobachterstandortes 102
3.3 Der ethnisch-holistische Kulturbegriff als Grundlage von Interpretationen einer multikulturellen Gesellschaft 104
3.3.1 Merkmale eines ethnisch-holistischen Kulturbegriffs 109
3.4 Exkurs: Musikpädagogische Beobachterstandorte - Sichtweisen auf die eigene Kultur 110
3.5 Nachweis des ethnisch-holistischen Kulturbegriffs in Materialien zu einer interkulturell orientierten Musikpädagogik 117
3.5.1 Von den Anfängen bis zur Gegenwart 117
3.5.2 Die Materiallage zur türkischen Musik und Musikkultur 121
3.5.3 Bezug zu den Lehr-, Rahmen- oder Bildungsplänen 122
3.5.4 Analysen 124
3.5.4.1 Schulbücher (Beispiele 1 bis 5) 124
3.5.4.2 Ergebnisse der Analysen 128
3.5.4.3 Fachdidaktische Aufsätze (Beispiele 6 bis 9) 129
3.5.4.4 Ergebnisse der Analysen 135
3.6 Zusammenfassung: Probleme und Chancen eines ethnisch-holistischen Kulturbegriffs 136

4. Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff 143
4.1 Interkulturalität und Bedeutungsorientierung 143
4.1.1 Aufbau des Kapitels 143
4.1.2 Theoretische Voraussetzungen des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs 144
4.1.3 Die Beschreibung interkultureller Situationen auf der Basis eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffs 149
4.1.4 Der Bedeutungsbegriff zwischen Bedeutungszuweisung und Bedeutungserschließung in musikalisch-ästhetischen Praxen 153
4.2 Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff und das Konzept der Transkulturalität 155
4.2.1 Die Notwendigkeit, den Kulturbegriff neu zu bestimmen 156
4.2.2 Das Konzept der Transkulturalität von Wolfgang Welsch 157
4.2.3 Die Forderung nach einer transkulturellen Musikpädagogik von Volker Schütz 161
4.2.4 Grenzen und Perspektiven des transkulturellen Konzeptes 163
4.3 Merkmale des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs 165
4.4 Die Beschreibung von Jugendkulturen auf der Basis eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffs 167
4.4.1 Bedeutungsorientierung in Jugendkulturen 167
4.4.2 Historische Voraussetzungen 170
4.4.2.1 Jugendkultur oder Jugendkulturen? Widerstreitende Konzeptionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts 170
4.4.2.2 Die Ausweitung des Kulturbegriffs. Zu den Forschungen des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham 172
4.4.2.3 Von der Subkultur zur Jugendkultur 173
4.4.2.4 Kulturelle und individuelle Identitätskonstruktionen im 21. Jahrhundert 174
4.4.3 Jugendkulturen in der Musikpädagogik 177
4.4.3.1 Musikpädagogische Texte im Umfeld von Musiksoziologie und Musikpsychologie 177
4.4.3.2 Zur Bedeutung einer korresponsiven Einstellung in den ästhetischen Praxen von Jugendkulturen 182
4.5 Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff als Grundlage einer interkulturell orientierten Musikpädagogik 187
4.5.1 Die Beschreibung jugendlicher Migrantenkulturen und ihrer musikalisch-ästhetischen Praxen auf der Basis eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffs 188
4.5.2 Möglichkeiten methodisch-didaktischer Inszenierungen: Der Teufel steckt im Detail 195
4.5.3 Chancen, die der bedeutungsorientierte Kulturbegriff für eine interkulturell orientierte Musikpädagogik liefert 199
4.6 Postskriptum: Ein bedeutungsorientierter Kulturbegriff zur Beschreibung der eigenen Kultur 201

5. Abschließende Bemerkungen 207
5.1 Kurze Zusammenfassung 207
5.2 Weiterführende Perspektiven 207
5.2.1 Forschung 207
5.2.1.1 Bedeutungszuweisungen an musikalisch-kulturelle Praxen in jugendlichen Migrantenkulturen 208
5.2.1.2 Unterrichtsforschung 208
5.2.1.3 Grundlagentheoretische Arbeiten zu Aufgaben und Zielen des Musikunterrichtes an der allgemeinbildenden Schule 208
5.2.2 Unterrichtsmaterialien 209
5.2.3 Die „Haltung" der Lehrenden 210
5.3 Was nicht behandelt wurde 211

6. Verzeichnis der verwendeten Literatur 213