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Die Überwindung des Ikonischen Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft
Die Überwindung des Ikonischen
Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft




Elise Bisanz

Transcript
EAN: 9783837613629 (ISBN: 3-8376-1362-3)
184 Seiten, paperback, 14 x 23cm, 2010, zahlr. z.T. farb. Abb.

EUR 21,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Entstanden im methodologischen Kontext der angewandten Kulturwissenschaft, nähert sich das Buch bildhaften Kodierungen mittels dreier Disziplinen an: Kulturwissenschaft/Symbolforschung, Ästhetik sowie Bildlogik. Mit ausgewählten Bildformaten – wie digitales Bild, Photographie, Videoinstallation, Malerei, Kino – sowie mit Bildtheorien aus den Bereichen der kultur- und naturwissenschaftlichen Forschung überwinden die Analysen den ikonischen Charakter von Bildern und erklären sie als symbolische Zeichen und als Dokumente kultureller Prozesse.
Rezension
Bildwelten ersetzen zunehmend Textwelten; schon sprechen wir vom Ende der Gutenberg-Galaxie … Schüler und Schülerinnen erfassen Bilder (vermeintlich) wesentlich schneller als Texte. Bilder funktionieren auf vielen Ebenen gleichzeitig, während sich der Text linear einlinig erschließt. – Es verwundert mithin nicht, wenn das Bedürfnis nach einer umfassenden „Bildwissenschaft“ wächst. Dazu aber bedarf es des intensiven Zusammenspiels verschiedener Disziplinen. Das ist der Ansatz dieses informativen Buches, das Bildtheorien aus den Bereichen der kultur- und naturwissenschaftlichen Forschung miteinander in Beziehung setzt und fächerübergreifend aus Perspektive der Kulturwissenschaft/Symbolforschung, Ästhetik sowie Bildlogik arbeitet. – Der Band sei allen empfohlen, die sich – in welchem Kontext auch immer – grundsätzlich und intensiv mit Bildwelten auseinandersetzen.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Kunst, Fotografie, Film, Medien, Ikonik
Adressaten:
Kulturwissenschaft, Bildwissenschaft, Visual Studies, Kunstwissenschaft

Elize Bisanz (Prof. Dr.) lehrt Bild- und Kulturwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bildwissenschaft, Kulturwissenschaft, Ästhetik und Semiotik.
Inhaltsverzeichnis
Einführung: Interdisziplinäre Bildwissenschaft 9

Bilder als kulturelle Kodierungen 11

Zum Verhältnis vom Bild und Bewusstseinszuständen 12

Angewandte Bildtheorien 15


TEIL I – BILDER ALS KULTURELLE KODIERUNGEN

Die kulturwissenschaftliche Analyse künstlerischer Zeichensysteme 23


Kultur und Zeichen 25

Kulturwissenschaft als Methode 34

Zur Grammatik der Kultur 37

Kultur als Sinngewebe: Deutung und Bedeutung 42

Kultur als sozialer Denkraum 44

Kulturelle Kodifikation: Idee und Objektivation 46

Zum symbolischen Charakter von Bildern 49

Elemente der symbolischen Konstruktion: Wissen, Erfahrung, räumliche Relationen 51

Gebrauch des Symbolismus 54

Die Funktionen der Symbole 56

Symbolische Intelligenz 57

Bilder als Konzepte organischer und geistiger Synergien 63

Das Sehen als eine Verflechtung organischer und intellektueller Funktionen 67

Wie Bilder unser Denken formen 69

Sehschemata als kulturelle Strukturierungskonzepte 75

Das Auge als Wahrnehmungsorgan 77

Modularität und visuelle Informationsprozessierung 80


TEIL II – ANGEWANDTE BILDTHEORIEN

Die Bildsphäre. Die Installationskunst als individuell und universell gelebter Raum 89


Die kulturelle Sphäre als verbindendes Element 91

Die erzählte Kultur 92

Vom Bildzeichen zur Bildsphäre 94

Neuere neurowissenschaftliche Identitätsmodelle 96

Die ästhetische Bildsphäre als Körperdiagramm 98

Ästhetische und gesellschaftliche Räume 103

Die Bedeutungssphäre der Installationskunst 108

Die Installationen des Künstlers SARKIS 109

Das Installationswerk und die Entfaltung der Bildsphäre 116

Die materiellen Elemente und die Sujets der Arbeiten 118

Zur Zeichenstruktur photographischer Bilder 121

Photographische Strukturen als Repräsentationen und Manifestationen 127

Das poetische Bild in der Videokunst 137

Maschine als Spiegelbild des Menschen in der Videoinstallation 137

Die polyphone Ausdrucksform der Videoinstallationen und ihre poetische Intermedialität 139

Werkbeispiele: Die Gruppe „Granular Synthesis“ 141

Digitale Bildzeichen 149

Zur Logik der kinematographischen Bildsprache 159


Film als Sprache 161


Literatur 175

Register 181



9
Einführung
Interdisziplinäre Bildwissenschaft
“The distinction on which all philosophy is based is
between Images of Reason and Images of Sense. The
distinction on which all Psychology is based is between
Images of the Inner Sense and Images of the Outer
Sense. The distinction on which Metaphysics is based is
between Images as Images and Images as
Representation.”1
Charles S. Peirce
Die vorliegenden Untersuchungen sind im methodologischen
Kontext der Angewandten Kulturwissenschaft entstanden und
verbinden drei Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaft /
Symbolforschung, Ästhetik und Bildlogik; das Bild als kodierte
Information und theoretische Anwendungsfläche bildet den gemeinsamen
Nenner aller Bereiche.
Die Fokussierung auf den interdisziplinären Aspekt der Bildwissenschaft
hat erwiesen, dass die immer wieder als hinderlich
proklamierte disziplinäre Heterogenität durch die schwerpunktorientierte
Zusammenstellung der multidisziplinären Ansätze
überwunden werden kann. Dadurch konnte eine kulturwissenschaftliche
Metaebene erreicht werden, auf der neben den inhaltlichen
Erkenntnissen auch die Besonderheiten der disziplin-
1 1860 June 30, in: Ketner, K.L. 1998, His Glassy Essence. Autobiography
of Charles S. Peirce. Nashville: Vanderbilt University Press.
Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft
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bestimmten Logiken und die daraus gewonnenen Erkenntnisse
zur Bildkognition und zur Bildstruktur hervorgehoben werden
konnten.
Ein weiterer Schwerpunkt der Untersuchungen ist die kognitive
Leistung bildhafter Kommunikation. Optimierter Informationskonsum
und Wissenszirkulation gehören zu den wichtigsten
Funktionen, mit denen die kommunikative Leistung von Medien
gemessen wird. Bilder als optische Medien sind zunächst durchdrungene
Erlebnisräume, spiegeln die Strukturen unserer
Sinneswahrnehmungen wider, tragen Kodes unseres kulturellen
Gedächtnisses. Sie sind darüber hinaus Verkörperungen kreativer
Handlungen, die neben einer ikonischen Informationsvermittlung
synästhetische und symbolische Felder erschließen.
Die interdisziplinäre Perspektive setzt genau an dieser Stelle
an und untersucht die jeweiligen Funktionsebenen ästhetischer
Bildprozesse aus der Perspektive der Disziplinen Philosophie,
Kunstwissenschaft, Bildwissenschaft und Neurowissenschaft.
Ausgehend von der historischen Perspektive der bildwissenschaftlichen
Entwicklung und am Beispiel konkreter Anwendungsbereiche
wird darin der Frage nachgegangen, inwieweit
ästhetische Bilder Produkte neuronaler und inwieweit sie Produkte
kreativer Handlungen sind, sowie welche Möglichkeiten die
Kultur-, Kunst- und Neurowissenschaft haben, die Strukturmerkmale
der kreativen Bildhandlung zu diagnostizieren.
Das Konzept der Annäherung an das Gebilde Bild als eine
Verkörperung kultureller Handlungen zielt auf die synchronische
Analyse der semantischen, syntaktischen und pragmatischen
Funktionshorizonte von Bildern. Die Schwerpunkte der hier präsentierten
Untersuchungen sind:
• ästhetische Bilder,
• Bilder im Kontext klinischer und psychologischer Kognitionsforschung,
• kulturelle Kodierung und Bilder,
• semiotische Bildmodelle,
• Verkörperung von Zeit und Raum in Bildern,
• Bilder als Projektionsflächen von imaginären Denkmustern
und semantischen Feldern.
Einführung
11
Bilder als kulturelle Kodierungen
“Thus to suppose that we have an image before us
when we see, is not only a hypothesis which explains
nothing whatever, but is one which actually creates
difficulties which require new hypotheses in order to
explain them away.”2
Am 11. April 2006 erreichte die Erforschung des Weltraums einen
neuen Höhepunkt: die erfolgreiche Ankunft der Raumsonde
„Venus Express“ am Planeten Venus. Wieder einmal wurde die
Berichterstattung zum sensationellen wissenschaftlichen Erfolg
mit Bildern begleitet, die keine Photographien, sondern – wie der
dezente Hinweis erklärte – Computeranimationen waren. Die
simulierten Bilder der Exploration und Entdeckung von Universen
verbanden die Zuschauer und die Wissenschaftler mit verborgenen
Welten anderer Planeten; fast ritualisiert fixierten sich
die Blicke auf die magische Quadratur des leuchtenden Bildschirms,
aus dem heraus die ganze Menschheit samt ihrer
wissenschaftlichen Errungenschaften die Bilder ihrer Existenz
beschworen! Dabei wurden Bildern in der langen Kultur- und
Ideengeschichte der westlichen Kultur als Erkenntnismedium
stets mit großer Skepsis und Argwohn begegnet. Woher kommt
diese Wende, die den Bildern den Status von Dokumenten und
Instrumenten unserer kostspieligsten Errungenschaften verleiht?
Liegt die Ursache in einer grundlegenden Wende der Logik des
Bildes, in einer Neustrukturierung der bildnerischen Ausdrucksform
oder vielmehr in einer Veränderung der kulturellen Struktur?
2 Peirce. Collected Papers. 5.303.
Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft
12
Zum Verhältnis vom Bild und
Bewusstseinszuständen
„Wir haben ein Vermögen,
auch wenn die Dinge selbst nicht vorhanden sind, die
Bilder der Dinge, oder das, was wir einmal bei ihrer
Gegenwart empfunden haben, uns vorzustellen. Dieses
Vermögen heißt Einbildungskraft, Phantasie,
Imagination.“3
Bilder sind zunächst Ausdrucksformen, Medien der Übertragung
und Generierung von Bedeutungen. Als Zeichen bilden sie
Elemente der Semiosphäre, verstanden als Sphäre der kulturellen
Produktion und Konsumption. Für die Analyse kultureller
Strukturen sind Bilder daher eine zweifache Informationsquelle,
für die Inhalte und für die Form der Kultur. Die bildhafte Vorstellung
hat ihren direkten Ursprung in einer Sphäre von imaginären
Möglichkeiten, die durch die geistige Kraft der Phantasie
produziert wird. Ähnlich wie Bildphänomene hat die Phantasie als
Zeichenprozess unterschiedliche Formen: reproduktive, produktive
oder synthetische.4
In zahlreichen philosophischen Erklärungen des Bildes finden
wir einen direkten Zusammenhang zwischen dem Bild und der
Vorstellung; Vorstellung wird stets als ein allgemeines Bild verstanden,
welches von Erscheinungen vermittelt wurde. So wie ein
Bild ist auch sie eine Repräsentation, sowohl einer sinnlichen
Wahrnehmung, einer Empfindung oder eines Gefühls. Vorstellung
ist „das in unserem Bewusstsein erzeugte Bild eines Gegenstandes
oder eines Vorgangs der Außenwelt“.5 Wundt unterscheidet
zwischen drei Hauptformen der Vorstellung: intensive, räumliche
und zeitliche Vorstellungen. Vorstellung als Erinnerungsvorstellung
ist vor allem eine Reproduktion. Sie kann aber auch
aus Empfindungen, aus Elementen sich aufbauender Bewusstseinsvorgänge
bestehen.
Das Verhältnis von Vorstellung und Objekt, ihre repräsentationale
Funktion, wird unterschiedlich gedeutet. Vorstellung ist
noch vor-bildlich, das heißt sie ist kein Objekt, sondern besteht
aus Momenten von Prozessen und Vorgängen, eine Einbildung,
3 Feder. Logik und Metaphysik. S. 2 ff.
4 Augustinus. (Ep. ad Nebrid. 62. vgl. De mus.VI, 11 Den vera relig. 10).
5 Wundt. Grundsätze der physiologischen Psychologie. 114, 1. vgl. 14,
281.
Einführung
13
eine innerliche Vergegenwärtigung von Objekten. Als Vorstellung
gilt auch das Perzipieren eines Inhalts durch Wahrnehmung und
Erinnerungsbild, eine infolge von Wahrnehmung eintretende
seelische Veränderung und Nachwirkung Das Objekt dieses Vorgangs
wird als das Vorstellungsbild oder Phantasma definiert.
Vorstellung ist darüber hinaus die Erfassung eines seelischen Zustands
durch einen Abdruck (typôsis).6 Auch John Locke sieht
eine direkte Verknüpfung der Vorstellung mit einem seelischen
Zustand, denn die Vorstellung (idea) ist alles, was die Seele auffasst.
Die Vorstellung ist die Vergegenwärtigung einer Vielheit in
einer Einheit.7 Sie steht in natürlicher Beziehung zu dem, was
vorgestellt werden soll. Kant verbindet mit Vorstellung drei Arten
von Perzeption: Anschauung, Begriff, Idee.8 Jede Vorstellung
äußert sich in Stoff und Form, und durch die Vorstellung versucht
das Subjekt das Objekt räumlich und zeitlich zu bestimmen.
Die begriffliche Bestimmung des Bildes zeigt eine Pluralität
der ikonischen wie auch symbolischen Eigenschaft von Bildphänomenen.
Die Pluralität der formalen und funktionalen Eigenschaften
bildet die Grundlage zur Bestimmung der hier dargestellten
Bildkonzepte, von zweidimensionalen Bildern der photographischen
Aufnahme, computergenerierten Bildinformationen
bis zu den Bildsphären des Kinos und der Cyberwelt.
Bilder als Dokumente kultureller Prozesse gehören zu den
wichtigsten Medien und Informationsträgern der menschlichen
Kommunikation. Durch ihr zeitgleiches Auftreten als einfache
und komplexe modellierende Systeme dominiert die Bildsprache
die kulturelle Massenkommunikation und verdrängt andere
Zeichensysteme in untergeordnete Zeichenwelten. Die Untersuchungen
fokussieren vor allem auf die modellierende Disposition
des Bildes in seiner Eigenschaft als Sprache und als
Zeichensystem. Dazu zählen sowohl individuelle Sinnkonzepte,
wie z.B. Konzepte der Sehtätigkeit, wie auch kollektive Sinnkonzepte,
die vorwiegend auf kulturelle Modellierung zielen. In
diesem Spannungsfeld zwischen dem Eigenen und dem Kollektiven,
dem Körperlichen und dem Geistigen fungiert das Bild als
6 So zum Beispiel in der Definition der Stoiker (3000 v.Chr.).
7 Leibniz. (Nouv. ess.II, ch. 1, 1).
8 Kant. Kritik der reinen Vernunft. S. 278 f.
Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft
14
Anziehungs- sowie Projektionsfläche von kulturellen Informationen.
Ausgehend von der Strukturierung von Bildkonzepten werden
die gegenseitige Bestimmung und Beeinflussung von Kultur-,
Zeichen- und Identitätskonzepten in ihrer Definition als Bewusstseinszustände
erörtert. Die Bildbeispiele werden primär als Zeichenkonzepte,
als vielschichtige Akkumulationen von kulturellen
Informationen gelesen.
Die Analysen präsentieren Konzepte sowohl künstlicher wie
auch künstlerischer Bildsysteme, denn in den Metamorphosen
des Bildzeichens lassen sich Grundeigenschaften der Bildsprache
beobachten, die neben unserer kulturellen Kommunikation auch
auf grundlegende Auswirkungen auf die Zeichenstruktur hinweisen.
Die Offenlegung der zeichenstrukturellen Veränderungen
soll die strukturelle Veränderung des kulturellen Korpus erklären.
Der erste Teil antwortet auf die grundsätzlich methodologische
Frage nach der Relevanz von zeichentheoretischen Ansätzen für
die Kulturwissenschaft. Dabei werden Positionen erörtert, die
Bewusstseinsphänomene unmittelbar als Zeichenphänomene
erklären, sei es in ihren strukturierenden wie auch bedeutungstragenden
Eigenschaften.
Nach der Einführung in die methodische Logik wird die
zentrale Bedeutung von spezifischen Zeichencharakteren wie die
des Symbolischen untersucht. Das symbolhafte Zeichen gehört zu
den komplexesten Zeichenstrukturen und ist somit sehr reich an
kulturellen Informationen. Bilder als symbolische Referenz verbinden
vielschichtige Bewusstseinsphänomene wie die Erfassung
von räumlichen und zeitlichen Kategorien, individuelle und
kollektive Erfahrungen etc.; ihre strukturierende Eigenschaft
unterstützt die Verarbeitung von komplexen Informationen wie
auch die prognostische Repräsentation von komplexen kulturellen
Entwicklungen. Die unterschiedlichsten Aspekte und Eigenschaften
werden in diesem Zusammenhang als die Herausbildung
einer symbolischen Intelligenz formuliert. Als Symbole können
Bilder – im Unterschied zur Wortsprache – sowohl Ähnlichkeitsbezüge
zur Welt haben wie auch Strukturierungsformen von
abstrakten Kategorien verkörpern. Aufgrund dieser Dimension
werden Bilder als Medien und Vehikel zur Förderung der symbolischen
bzw. kulturellen Kompetenz verstanden.
Einführung
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Angewandte Bildtheorien
Der jüngst ausgebrochene Drang nach digitalen Bildgebungsverfahren
in der Naturwissenschaft (Medizin, Astronomie etc.)
veranschaulicht die immense Bedeutung der bildhaften Vermittlung
von Erkenntnissen für den Menschen. Denn das Sehen
macht die kulturelle Aktivität im Sinne der Kommunikation und
Produktion von kulturellen Informationen exemplarisch sichtbar.
Es zeigt auch, dass die Schlüsselfunktionen der Zeicheninterpretation
offensichtlich durch neuronale Aktivitäten oft auf der
Grundlage von geistigen Kodierungsstrukturen erklärt werden.
Diese sind ausschließlich kulturell und gesellschaftlich geprägte
Koderegeln, symbolische Verflechtungen von neuronalen und
geistigen Tätigkeiten.
Die angewandten Beispiele verfolgen die Spuren dieser Veränderungen.
Darin werden unterschiedliche Strukturierungs- und
Erscheinungsformen als universale Konzepte von bildhaften
Zeichenformen erklärt sowie deren kontextuelle Umgebungen
erörtert. Die Analysen zeigen, dass vor allem künstlerische Bildformen
eine erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich der Kodierungsstrukturen
aufweisen. Im Unterschied zu den künstlichen
Zeichensystemen zeigen künstlerische Zeichensysteme ein
komplexeres Bedeutungssystem und vermitteln somit dichtere
Informationen über den kulturellen Kontext. Die diskutierten
Bildkonzepte lassen sich durch die folgenden Kategorien zusammenfassen:
• Bilder als Manifestationen der kulturellen Logik
• Bilder als Programm und als künstliches Zeichensystem
• Bilder als Erfahrungs- und Gedächtnisräume
• Bilder als technische Illusion
• Bilder als synästhetische Räume
Im Folgenden eine kurze Übersicht der Schwerpunkte:
Künstliche Bildsysteme wie die digitale Programmierung von
Bildkonzepten manifestieren schematische Besonderheiten der
bildhaften Wahrnehmungs- und Darstellungsformen. Zu ihren
wichtigsten Charakteristika gehört ihr technischer Charakter. So
bestimmt auch die technische Logik die Eigenschaft ihrer
Sprache, zu denen Virtualität und Simulation gehören. Insbesondere
am Beispiel der in Telepräsenz vermittelten Bildinformationen
von planetarischen Expeditionen lassen sich neue
Bildschemata erkennen und die fundamentale Funktion von
Bildzeichen für die Wahrnehmung unserer Umwelt verdeutlichen;
Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft
16
die digital simulierten Kompositionen exemplifizieren darüber
hinaus den Einfluss unserer visuellen Wahrnehmung auf die
wissenschaftliche Entwicklung. Das visuelle System fungiert
dabei wie eine Übersetzungszentrale zwischen dem Sehen, dem
Wahrnehmen, dem Kartieren und dem Sein.
Die technische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die
Bildprozesse zeigen unmittelbare Auswirkungen auf die ästhetischen
Qualitäten von Bildsystemen. Als Kommunikationsmittel
und gesellschaftlich verankerte Ausdrucksformen verdichten
Kunstwerke im Zeitalter der Massenkommunikation die Logik der
Massenkultur in ihrer Darstellungsform. Auch sie tragen Spuren
der Virtualität, verbinden Rhetoriken der Technizität und der
Poetizität der künstlerischen Gestaltung. Im Zeitalter der
Massenproduktion lösen sich künstlerische Konzepte von Kategorien
der Zeit und des festen territorial gebundenen Raums ab.
Ganz nach den Gesetzmäßigkeiten des Marktes und des Kapitals
nehmen sie ähnlich abstrakte Gestalten an und reflektieren ihre
Bedingtheiten durch hypertextuelle Bildkonzepte. Im hyperrealen
Zustand vermischen sich die Modi der Sinneswahrnehmung in
einem nicht-eindeutig bestimmbaren universellen Raum. Die
Dynamisierung der Bildfläche wird somit zum unmittelbaren
Produkt der Hypertextualität und zur Manifestation der Grundstruktur
der Semiosphäre.
Doch wie bewältigt der Mensch die Abstraktion des gelebten
Bildraums? Die künstlerische Entwicklung nach der klassischen
Moderne setzt sich permanent mit der Suche nach adäquaten
Formen der Raumgestaltung auseinander. Aufgrund der existenziellen
Rolle der bildnerischen Strukturierung unserer Wirklichkeit
beeinflusst die Suche nach neuen Formen naturgemäß auch
die Strukturierungsformen bzw. Kodierungsformen von Bildkonzepten.
Mit der Gewinnung neuer Erfahrungsräume erweitert
sich der Bildraum von einem starren zweidimensionalen Bild zu
sphärischen Bedeutungskonstellationen; so zersprengen die Zeichenträger
den binokularen Bildraum zu mehrdimensionalen Bewegungsräumen,
in denen auch der menschliche Körper in Bewegung
gesetzt wird. Vor allem die Kunst der Installation dokumentiert
den Weg dieser Transformation; auf der Entwicklungskette
der bildnerischen Kodierung ist sie ein Wegweiser für die spätere
Entwicklung der Cyberkunst und des abstrakten Kinos.
Die technokratische Logik der schnelllebigen Veränderungen –
vom digitalen Fortschritt bis zur künstlichen Ausdehnung des
öffentlichen Raums und dem damit verbundenen Verschwinden
des privaten Raums – hat Zeichensysteme hervorgebracht, deren
Einführung
17
Grammatik nicht mehr vorrangig durch die Gesetze der Repräsentation,
sondern die der Simulation – der zeitliche Austausch
zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat – bestimmt werden.
Eine Begleiterscheinung dieser Verschiebung, von der ursprünglich
ausführenden Funktion zu einer instrumentellen Rolle
der Grammatik innerhalb eines Zeichensystems, stellt der Übergang
in eine höhere Stufe der Abstraktion des Kommunikationsvorgangs
dar, die auch eine gewisse Gefahr der Instrumentalisierung
des konsumierenden Subjekts in sich birgt.
Künstlerische Antworten auf ähnliche Tendenzen finden wir
im Bildkonzept der Photographie, die durch ihre Zeichenstruktur
Position auf den strukturellen Veränderungen bezieht. In der
digitalen Kunstphotographie ist eine interessante Rückwendung
zu gesellschaftsrelevanten Themen, zum sozialen Kontext des
ästhetischen Zeichens zu beobachten. Sie erlangt ihren informatorischen
Charakter nicht vorrangig durch ihre Sprachform,
sondern durch ihre Fähigkeit, die Strukturen außerhalb der
künstlerischen Sprache zu erkennen und sie zum Ausdruck zu
bringen. Zahlreiche Beispiele der zeitgenössischen Photographie
zeigen eine Reflexion über die Grundlagen der bildhaften Darstellungen
wie die Kategorien der Zeit und des Raums. In dieser
Erweiterung spielt die ikonische Eigenschaft des Bildzeichens
eine rudimentäre Rolle, stattdessen bestimmen kulturelle Kodierungen,
sei es als subjektive Wahrnehmungsmuster oder auch
kollektive Ideenwelten, die Zeichenstruktur der Bildsprache. Das
moderne dialektische Werk, das aus der Gesellschaft kommend
mit aller Kraft seine Autonomie verteidigt, erfährt in der Immaterialität
der Cyberwelt die Überschreitung seiner eigenen Medialität.
Mit der Entwicklung der Videokunst sucht die Kunst einen
Ausweg aus der technischen Abhängigkeit des Bildes. Die Videokunst
verbindet die Strategie der Installation und der technischen
Simulation; darüber hinaus verwandelt sie den menschlichen
Körper zum unmittelbaren Erfahrungsmedium, denn der Körper
bildet den Maßstab für die elektronischen Projektionen. Durch die
Poetisierung der elektronischen Bildsprache kompensiert die
Videokunst den durch die Erfindung der Photographie hervorgerufenen
Verlust der ästhetischen Aura. Indem der menschliche
Körper zugleich als Zeichenträger, als Interpretant und als Interpret
fungiert, reduziert er den technischen Aspekt auf eine
rudimentäre Rolle. Als Bewegungsbilder wird Videobildern eine
starke Bildauthentizität zugewiesen, zusammen mit dem Installationskonzept
entfalten sie eine verräumlichte Erfahrungssphäre.
Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft
18
Die zeitgleiche Perfektionierung der Bildsprache durch das kinematographische
Bild präsentiert eine ihrer komplexesten Kodierungskonstellationen;
sie verbindet die kulturellen, geistigen,
technischen und biologischen Konzepte der bildhaften Kommunikation.
Das kinematische Bildzeichen avanciert, sowohl in seiner
künstlichen wie auch künstlerischen Konstruktion, zum wichtigsten
Informationsmedium. Darin besteht auch ein entscheidender
Grund seines Unterhaltungscharakters. Wie kaum eine
andere Bildform verkörpert das Kinobild sowohl die illusorische
Dimension von Bildern wie auch seinen darstellenden Charakter;
als die Überlappung von Bewegungsbild, Aktionsbild und Affektbild
versetzt es den Betrachter in eine zugleich vertraute und
fiktive Bildsphäre, deren Strukturen und Kodierungen die
gleichen Züge der kulturellen Sphäre, der Semiosphäre zeigen. So
wandelt sich das Bildzeichen von einem binären Repräsentationssystem
des Signifikanten und Signifikats des ersten technischen
Bildes in eine kristallinförmige räumliche Struktur, die die ikonische
Eigenschaft des Bildes überwindet und als symbolische
Struktur komplexeste kulturelle Informationen vermittelt.
Die im analytischen und angewandten Teil diskutierten
künstlerischen Beispiele sind Modelle der wechselseitigen Beeinflussung
zweier grundlegend verschieden konstruierter Zeichensysteme:
die Logik des technischen und die des poetischen
Zeichensystems. Die kulturwissenschaftliche Methodik zielt auf
die Überwindung der Kluft zwischen den zwei Formen der kulturellen
Organisation und begreift sie als gleichwertige Seiten des
symbolischen Ausdrucks: die Seite der instrumentellen Vernunft
und die Seite der Phantasie.
Die bildsemiotische Methodik der Abhandlungen erklärt sich
dadurch, dass sie die einzige umfassende und systematische
Grundlage zur Erforschung und Erklärung von Bedeutungen
bietet, denn als Semeiotic, wie Charles S. Peirce sie formulierte, ist
sie die umfassende Wissenschaft der Bedeutungssphäre. Ihr
sphärischer Charakter wird besonders durch zwei Zeichenformen
getragen: durch ästhetische Zeichen und durch das Bild, sowohl
in seiner ikonischen wie auch symbolischen Form. Peirce
unterstrich die Essentialität der künstlerischen Produktion; als
besonders wichtig erachtete er ihre Eigenschaft der multiplen
Bedeutungskonstruktion, mehr noch, er erklärte sie als die
Bedingung jeder Logik und als die treibende Kraft der kulturellen
Evolution:
Einführung
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“The artist introduces a fiction; but it is not an arbitrary one; it
exhibits affinities to which the mind accords a certain approval
in pronouncing them beautiful, which if it is not exactly the
same as saying that the synthesis is true, is something of the
same general kind. The geometer draws a diagram, which if not
exactly a fiction, is at least a creation, and by means of
observation of that diagram he is able to synthesize and show
relations between elements which before seemed to have no
necessary connection.”9
Bilder als Zeichen sind triadische Modelle, die zwar ikonische
Relationen einschließen dennoch nicht darauf zu reduzieren sind.
Tatsächlich sind Bilder, wie jedes Symbol, Konstellationen von
ikonischen Zeichen, deren Relationen zueinander durch den
gestalterischen Prozess zu individuellen Bildern führen. Vor allem
im symbolischen Charakter zeigt sich die Besonderheit des bildhaften
Zeichens, denn Bilder sind genuin individuell hervorgebrachte
Zeichen, die sich jeglicher Kontrolle der sprachlichen
Allgemeinheit entziehen; darüber hinaus können Bildzeichen in
unterschiedlichen Formen verkörpert werden: als Diagramme,
Karten, Gemälde, Photographien, aber auch als abstrakte Konzepte
wie Installationen, Träume et cetera. All diese Formen sind
Bilder und somit Symbole, denn Bilder sind Modelle unserer
Wahrnehmung und Repräsentationen unserer geistigen Tätigkeit.
Peirce geht sogar soweit, dass er die bildhafte Vorstellung zum
grundlegenden Medium des menschlichen Ausdrucks und
Denkens erklärt; so basieren die Unterscheidungen aller philosophischen
Fakultäten auf der Unterscheidung zwischen Images
of Reason und Images of Sense, die der Psychologie zwischen
Images of the Inner Sense und Images of the Outer Sense und die
der Metaphysik zwischen Images as Images und Images as Representation.
Auch dieses genuin semiotische Bildkonzept fungiert
als Grundlage der vorliegenden Texte.
9 Peirce. Collected Papers. 1.383.