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Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden
Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden




Stephan Kemperdick, Jochen Sander (Hrsg.)

Hatje Cantz Verlag
EAN: 9783775722582 (ISBN: 3-7757-2258-0)
404 Seiten, hardcover, 21 x 25cm, 2009

EUR 49,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
"Der Meister von Flémalle wurde von der Kunstforschung sozusagen aus einer Rippe Rogiers erschaffen (...). Es gab eine Rogiersche Kunst, die in der Nähe der Kunst des Flémalle-Meisters erblühte, ehe es eine Rogiersche Manier gab."

Max J. Friedländer (1916)
Rezension
Anfang des 15. Jahrhunderts erschuf eine Gruppe von Künstlern in den burgundischen Niederlanden neue Ausdrucksformen der Malerei, die für die nachfolgende Epoche bahnbrechend wurden und den Beginn neuzeitlicher Kunst kennzeichnen. Um 1425/30 vollzog sich plötzlich eine radikale Hinwendung zur eigenen Lebenswirklichkeit. Die Natur wurde genauestens studiert, es wurden real wirkende Bildflächen geschaffen, die jedes einzelne Detail zu erfassen suchten. Die Maler versetzen die Figuren der Heilsgeschichte in ihre eigene Zeit, lassen sie in Kirchen und bürgerlichen Wohnstuben auftreten, wie sie die damaligen Betrachter aus eigener Erfahrung kannten. Neben Hubert und Jan van Eyck sind vor allem der Meister von Flémalle, der zuweilen mit dem Maler Robert Campin aus Tournai gleichgesetzt wird, sowie der Brüsseler Stadtmaler Rogier van der Weyden zu nennen.
Ein besonderes Interesse der Künstler galt der äußeren Erscheinung der Dinge, ihrer Stofflichkeit und ihrer durch Lichteinfall jeweils veränderten Gestalt. Menschliche Gesichter erscheinen individualisiert, das Spiel von Licht und Schatten in kunstvollen Brokatstoffen und schillernden Schmuckstücken wird minuziös ins Bild gesetzt. Der Bildhintergrund öffnet sich erstmals hin zu Landschafts- und Stadtpanoramen. Die bis dahin gebräuchlichen Tempera-Mischfarben wurden durch Öl-Pigment-Farben ersetzt, die viel intensiver leuchteten.
Die Gegenstandswelt der Werke korrespondierte mit der Lebenswelt des bürgerlichen Betrachters, wobei die einzelne Dinge allegorisch aufgewertet sind. Die Vorstellungswelt der Zeit war noch zutiefst von religiösen Ideen geprägt, die Elemente der sichtbaren Wirklichkeit verweisen auf eine transzendente Welt. Die großen heilsgeschichtlichen Zusammenhänge werden thematisiert, ihre Inhalte folgen weitgehend dem Kanon des Hoch- und Spätmittelalters: Verkündigung, Christi Geburt, Kreuzigung, Kreuzabnahme und Grablegung. Oft wirkt die Gestik der Figuren expressiv und die Szene erstarrt. Das berühmte Mérode-Triptychon des Meisters von Flémalle verlegt die Verkündigung in eine schmuckvoll dekorierte niederländische Wohnstube des gehobenen Bürgertums, die Seitenflügel geben durch offene Fenster und Türen den Blick frei auf die städtische Welt. Die Darstellung auf dem Gemälde verleiht den Alltagsdingen einen Wert, die sie außerhalb des Bildes nicht besitzen. Panofsky hat vom „disguised symbolism“ gesprochen, vom verkleideten Symbolsinn einzelner weltlicher Elemente. In der neuen Freude an der Realität deutet sich auch bereits eine gewisse Profanierung des Heilsgeschehens an.
Die Auseinandersetzung mit diesen zutiefst symbolhaltigen und rätselhaften Werken der Altniederländer bildet nicht nur für den Kunstunterricht einen Gewinn. Auch für den Geschichts-, Philosophie- und Religionsunterricht lassen die Werke der „ars nova“ den epochalen Wandel anschaulich werden, der sich mit dem Beginn der europäischen Neuzeit vollzog. Was für uns heute schwierig zu verstehen ist, war den Menschen um 1450 geläufig: Die beginnende Säkularisierung bedeutete noch nicht den Verlust von Religion, sondern evozierte eine diesseitige und welthaltige Form von Spiritualität. Religion wurde ins Weltliche transponiert und die profane Erfahrungswelt heilsgeschichtlich gedeutet.
Kunsthistorische Kenntnisse kann der Unterrichtende mit der Lektüre des kostbaren Katalogs aus dem Hatje Cantz Verlag erwerben. Er entstand im Zusammenhang mit der epochalen Ausstellung „Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden“, die vom Frankfurter Städel gemeinsam mit der Gemäldegalerie der staatlichen Museen zu Berlin in diesem Jahr veranstaltetet wurde. Die in aller Welt verstreuten Werke altniederländischer Meister wurden hier erstmals aus den bedeutendsten Museen zusammengeführt. Aus dem begleitenden Katalog ist eine opulente und sachkundige Monografie entstanden, die den neuesten Forschungsstand zur niederländischen Kunst des Spätmittelalters wiedergibt. Sie wurde von den Kuratoren Jochen Sander und Stephan Kemperdick gemeinsam herausgegeben, die zu den weltweit angesehensten Wissenschaftlern im Bereich der altniederländischen Malerei zählen. Der umfangreiche Katalogteil erläutert annähernd sechzig Tafelbilder in hochwertigen Reproduktionen. Ihre Zusammenstellung ermöglicht dem Betrachter sowohl einen Vergleich der Werkstätten sowie einen Einblick in die Arbeit der Restaurierungsfachleute. Die Essays machen mit allen relevanten Aspekten des Themas vertraut und sind auch für kunsthistorische Laien gut zu lesen. Der eindrucksvolle Bildband ist das Zeugnis einer bedeutenden Ausstellung und eines großen Forschungsprojekts. Es bleibt zu wünschen, dass sich die Begeisterung der Autoren für die altniederländische Kunst, der dieses schöne Buch zu verdanken ist, auch auf die Schüler und Schülerinnen überträgt.
Andrea Hannemann
Verlagsinfo
Robert Campin, der Meister von Flémalle (um 1375–1444/45), und sein Schüler Rogier van der Weyden (1399/1400–1464) sind für die frühe Entwicklung der altniederländischen Malerei von zentraler Bedeutung. Gemeinsam mit Jan und Hubert van Eyck entdecken sie die sichtbare Welt für die Malerei und schildern sie, dank der damals neuen Technik der Ölmalerei, mit unerhörtem Detailrealismus: ein kostbarer Brokatstoff, die Träne auf der Wange einer trauernden Madonna oder schneebedeckte Alpengipfel am fernen Horizont.
Die niederländischen Maler des 15. Jahrhunderts machen neue, bisher ungesehene Motive bildwürdig. Dennoch verweisen solch profane Details stets auch auf eine transzendente Wirklichkeit, ist die Zeit doch noch zutiefst von religiösen Vorstellungen geprägt. Die Monografie stellt annähernd 60 Meisterwerke von Lehrer und Schüler aus den bedeutendsten Museen der Welt nebeneinander und ermöglicht im direkten Vergleich auch eine Abgrenzung der kontrovers diskutierten Werkkomplexe. (Englische Ausgabe ISBN 978-3-7757-2259-9)

Ausstellungen: Städel Museum, Frankfurt am Main 21.11.2008–22.2. 2009 · Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Kulturforum Potsdamer Platz 20.3.–21.6.2009
Inhaltsverzeichnis
Max Hollein und Bernd Wolfgang Lindemann
Vorwort 9

Stephan Kemperdick und Jochen Sander
Einleitung 13

Jochen Sander
Der geschichtliche Himmel 25

Jochen Sander
Die „ars nova“ und die europäische Malerei im 15. Jahrhundert 31

Antje-Fee Köllermann
Vor van Eyck und dem Flémaller 39

Stephan Kemperdick
Robert Campin, Jaques Daret, Rogier van der Weyden: die schriftliche Überlieferung 53

Jochen Sander
Die Rekonstruktion von Künstlerpersönlichkeiten und Werkgruppen 75

Stephan Kemperdick
Die Werkstatt und ihr Arbeitsmaterial 95

Stephan Kemperdick
I tableau à II hysseoires – ein Bild mit zwei Flügeln. Wandelbare und nicht wandelbare Bildensembles in der Zeit Rogier van der Weydens 117

Bastian Eclercy
Von Mausefallen und Ofenschirmen. Zum Problem des „disguised symbolism“ bei den frühen Niederländern 133

Stephan Kemperdick und Jochen Sander
Der Meister von Fle´malle, Robert Campin und Rogier van der Weyden – ein Resümee 149

Peter Klein
Dendrochronologische Untersuchungen an Gemäldetafeln der Gruppen Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden 161

Katalog 179

Literatur 390
Impressum 402
Abbildungsnachweis 404