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Der Lebensraum des Großstadtkindes Neuausgabe Herausgegeben von Imbke Behnken und Michael-Sebastian Honig

2. Auflage 2012
Der Lebensraum des Großstadtkindes
Neuausgabe


Herausgegeben von Imbke Behnken und Michael-Sebastian Honig



2. Auflage 2012

Martha Muchow, Hans Heinrich Muchow

Juventa Verlag
EAN: 9783779915546 (ISBN: 3-7799-1554-5)
212 Seiten, paperback, 15 x 23cm, September, 2012

EUR 29,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Studie von Martha Muchow und Hans Heinrich Muchow „Der Lebensraum des Großstadtkindes“, die 1935 zum ersten Mal erschien, ist mittlerweile ein Klassiker. Imbke Behnken und Michael-Sebastian Honig geben dieses Buch neu heraus und nehmen Texte hinzu, die Anregungen für künftige Forschungen in der Tradition von M. Muchow bieten.
Rezension
Die Hamburger Lehrerin, Anhängerin Friedrich Fröbels und Psychologin Martha Muchow (*1892 †1933 in Hamburg) hat bereits in den 1920er Jahren erkannt, dass die Pädagogik der frühen Kindheit einer besonders sorgfältigen kinder- und bildungspsychologischen Untermauerung bedarf. Mit ihrem Hauptwerk „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ von 1935, posthum von ihrem Bruder Hans Heinrich Muchow herausgegeben und mit dem hier anzuzeigenden Band wieder neu zugänglich gemacht und diskutiert, gilt sie als Pionierin der sog. ökologischen (Entwicklungs-)Psychologie. Zwar nimmt das Großstadtkind an der üblichen kindlichen Entwicklung teil, durch die Eigenart der technifizierten, mechanisierten Großstadtwelt kommt aber auch eine ganz eigene Kindeswelt zustande. Im September 1933 all ihrer Ämter durch die Nationalsozialisten enthoben und als "Judengenossin" ihres Lehrers William Stern denunziert, beging Martha Muchow Suizid.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Zur Neuauflage: Die Studie von Martha Muchow und Hans Heinrich Muchow „Der Lebensraum des Großstadtkindes“, die 1935 zum ersten Mal erschien, sodann von Jürgen Zinnecker 1978 und 1998 mit wissenschaftshistorischen und biografischen Recherchen vor Ort (Hamburg) neu herausgegeben, ist vergriffen. J. Zinnecker kann diese Neuauflage nicht mehr betreuen, er starb 2011. Imbke Behnken und Michael-Sebastian Honig übernehmen diese Aufgabe. Neu hinzugenommen werden Texte, die Anregungen für künftige Forschungen in der Tradition von M. Muchow bieten. Das sind die Beiträge von Gertrud Beck-Schlegel zu Forschungsansätzen im Schnittpunkt von Kindheits- und schulpädagogischer Forschung; von Kester Büttner und Thomas Coelen „Zur Neuauflage der Kritische Würdigung der Studie aus dem Blickwinkel der aktuellen Methodendiskussion. Ungereimtheiten, Nachwirkungen und Perspektiven“ und von Günter Mey, der sich „Auf den Spuren von Martha Muchow“ u.a. mit der wechselvollen Geschichte der Studie im Kontext der Wissenschaftsgeschichte befasst.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Neuausgabe 2012
„Der Lebensraum des Großstadtkindes“: Eine Pionierleistung der Kindheitsforschung 9

Teil 1
Der Lebensraum des Großstadtkindes mit einer Einführung von Jürgen Zinnecker


Jürgen Zinnecker
Recherchen zum Lebensraum des Großstadtkindes. Eine Reise in
verschüttete Lebenswelten und Wissenschaftstraditionen (1978) 19

Vorwort des Herausgebers (1978/1998) 21

Auf der Suche nach dem verlorengegangenen Arbeiterquartier 25

Nachrichten über die Arbeit des Psychologischen Laboratoriums der Universität Hamburg. Die zerstörte institutionelle Basis der Lebensraumuntersuchung 35

„Ich habe versucht, das Erbe meiner Schwester zu verwirklichen“.
Gespräche mit Hans Heinrich Muchow 38

Überleitender Exkurs über verlorene und wiedergefundene Forschungsfragen 42

Die Sackgasse der Milieuforschung. Neuformulierte Umweltpsychologie und Spieltheorie in der Lebensraumstudie 43

Straßensozialisation als stiefmütterlich behandeltes Untersuchungsgebiet 49

Der inhaltliche Aufbau der kindlichen Welt als Untersuchungsthema 52

Lebensweltuntersuchung und Parteilichkeit der Forschung. Entwicklungspsychologie als Absage an eine „psychotechnische“ Zurichtung und Zerstückelung der Kindheit 54

Notizen zur Wirkungsgeschichte der Lebensraumstudie in der Bundesrepublik 59

Literatur 60

Nachwort am Ende des Jahrhunderts (1998) 64


Martha Muchow und Hans Heinrich Muchow
Der Lebensraum des Großstadtkindes (1935) 75

Vorwort 76
Einleitung 78

Erstes Kapitel: Der Lebensraum als „Raum, in dem das Kind lebt“ 80
1. Abschnitt: Die Methode 80
2. Abschnitt: Allgemeines zur Struktur der Lebensräume 82
3. Abschnitt: Form und Aufbau der Lebensräume 87
4. Abschnitt: Zusammenfassung 96

Zweites Kapitel: Der Lebensraum als „Raum, den das Kind erlebt“ 97
1. Abschnitt: Material und Methode 97
2. Abschnitt: Spielgelände und Spiele der Großstadtkinder 98
3. Abschnitt: Die Freizeit (der Sonntag) des Großstadtkindes 102
4. Abschnitt: Zusammenfassung 105

Drittes Kapitel: Der Lebensraum als „Raum, den das Kind lebt“ 106
1. Abschnitt: Methodisches 106
2. Abschnitt: Der „zweckbestimmte Platz“ in der Welt des Großstadtkindes 107
3. Abschnitt: Der „unbebaute Platz“ in der Welt des Großstadtkindes 122
4. Abschnitt: Der „Spielplatz“ in der Welt des Großstadtkindes 126
5. Abschnitt: Die „verkehrsarme Straße“ in der Welt des Großstadtkindes 134
6. Abschnitt: Die „verkehrsreiche Straße“ in der Welt des Großstadtkindes 137
7. Abschnitt: Die „Hauptverkehrsstraße“ in der Welt des Großstadtkindes (zugleich über das
Schaufenster in der Welt des Kindes) 142
8. Abschnitt: Das „Warenhaus“ in der Welt des Großstadtkindes 146

Schlussbetrachtung 157


Jürgen Zinnecker
Martha Muchow. Materialien zur Biografie einer Wissenschaftlerin 161

Biografischer Kalender 161
Erinnerungen einer studentischen Mitarbeiterin 166
Bibliografie 170


Teil 2
Beiträge 2012


Günter Mey
Auf den Pfaden von Martha Muchow 177

1. Einleitung 177
2. Erste Station: 1935 – Die Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ 178
3. Zweite Station: 1978 – Die Wieder-Entdeckung als Neu-Entdeckung 182
4. Dritte Station: 1998 – Etablierung 185
5. Vierte Station: 2012 – Ausbreitung 186
6. Ausblick: Neue Anschlüsse und systematisierende Aufbereitung als Aufgabe 186

Gertrud Beck-Schlegel
Vom Lebensraum des Großstadtkindes zur
Martha Muchow-Stiftung. Wissenschaftsbiografische Notizen 191

Kester Büttner und Thomas Coelen
Kritische Würdigung der „Lebensraum“-Studie aus dem Blickwinkel der aktuellen Methodendiskussion.
Ungereimtheiten, Nachwirkungen und Perspektiven 198

1. Zur Begrifflichkeit von „Lebensraum“ und „Sozialraum“ 199
2. Zusammenfassende Darstellung von Anlage und Methodik der „Lebensraum“-Studie 202
3. Kritik an Muchows Forschungs-Design aus aktueller Perspektive 207

Die Autorinnen und Autoren 212


Leseprobe:

Vorwort zur Neuausgabe 2012
„Der Lebensraum des Großstadtkindes“:
Eine Pionierleistung der
Kindheitsforschung
Wir legen dem Publikum ein Werk vor, das erstmals 1935 erschienen ist,
infolge der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik zunächst nur eine
marginale Öffentlichkeit erreichte und der bundesdeutschen Amnesie der
Nachkriegsjahre vollends zum Opfer fiel. Jürgen Zinnecker hatte es wieder
entdeckt und 1978 als Reprint im Verlag päd. extra publiziert, versehen mit
einem biographischen Kalender und einer Bibliographie der Verfasserin.
„Der Lebensraum des Großstadtkindes“ von Martha Muchow und Hans
Heinrich Muchow erlebte danach eine breite nationale und internationale
Rezeption. Dazu hat beigetragen, dass Zinnecker dem Reprint eine wissenschaftliche
Reportage beigegeben hatte, in der er das Publikum an seiner
„Reise in verschüttete Lebenswelten und Wissenschaftstraditionen“ teilhaben
lässt: In einem rund vierzigseitigen Essay bettet er die Studie in den
wissenschaftshistorischen Kontext der 1920er und 1930er Jahre ein und arbeitet
ihre Bedeutung für aktuelle Diskussionen in sozialwissenschaftlichen
Feldern heraus. Zwanzig Jahre später wurde die Lebensraumstudie, zwischenzeitlich
vergriffen, in der Reihe „Kindheiten“ des Juventa Verlages
von Jürgen Zinnecker erneut zugänglich gemacht, ergänzt um ein Nachwort
zur Wirkungsgeschichte des Werkes nach dem Reprint von 1978. Auch diese
zweite Neuausgabe ist inzwischen vergriffen; Jürgen Zinnecker ist 2011
verstorben.
Warum nach 1978 und 1998 eine erneute Wieder-Veröffentlichung der
Muchow-Studie? Der Reprint von 1978 stand im Kontext einer kritischen
Wissenschaftsgeschichtsschreibung; er war auch ein Akt praktischer Wiedergutmachung,
der Rehabilitierung einer unterdrückten Forscherin. Dies
ist heute kein entscheidendes Motiv mehr. Es kann auch nicht mehr darum
gehen, einer unterschätzten oder vergessenen wissenschaftlichen Leistung
in den Diskussionen der scientific community Gehör zu verschaffen, denn
die Wiederveröffentlichung der Lebensraumstudie hat – wie Jürgen
Zinnecker in seinem Nachwort zur Neuausgabe 1998 feststellt und Günter
Mey (i.d.B.) differenziert nachzeichnet – eine nachhaltige Wirkung in Pädagogik,
Psychologie und Sozialisationsforschung entfaltet (vgl. Faulstich-
Wieland/Faulstich 2012). Die Lebensraumstudie von Martha und Hans
Heinrich Muchow wurde als bahnbrechender Beitrag zu einer sozialökologischen
Sozialisationsforschung bzw. einer umweltpsychologischen Sozialraumforschung
rezipiert; als Dokumentation proletarischer Kindheit im
Hamburg der 1920er Jahre ist sie auch eine Pionierleistung der historischen
Bildungsforschung. Mit der Anerkennung hat sich die Rezeption auch normalisiert,
das heißt: Sie übt auch eine deutliche Kritik am fragmentarischen
Charakter der Studie, an ihren methodischen Mängeln und konzeptionellen
Ungereimtheiten (vgl. Büttner/Coelen i.d.B.).
Jürgen Zinnecker hat mit der Entdeckung der Muchow-Studie, mit ihrer
Wieder-Veröffentlichung und nicht zuletzt mit dem Essay, der sie begleitete,
nicht lediglich einen wissenschaftshistorischen Beitrag geleistet. Obwohl
Zinnecker in seinem Essay den Ausdruck „Kindheitsforschung“ nicht ein
einziges Mal verwendet, hat er der Mitte der 1970er Jahre sich herausbildenden
sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung einen entscheidenden
Impuls gegeben. Die Lebensraumstudie hat Programmatik und Begrifflichkeit
großer Teile der frühen Kindheitsforschung im deutschsprachigen
Raum nachhaltig beeinflusst und wesentlich dazu beigetragen, dass sie ein
spezifisches Profil, spezifische Fragestellungen, spezifische Forschungsschwerpunkte
entwickelt hat (vgl. Behnken/du Bois-Reymond/Zinnecker
1989). Insbesondere die Rede von Kindern als eigenständigen Akteuren des
sozialen Lebens und von der Perspektive von Kindern hat durch die Lebensraumstudie
eine konkrete Bedeutung erhalten. Besonders charakteristisch
und lange Zeit bestimmend für das Selbstverständnis der deutschsprachigen
Kindheitsforschung waren die Beschäftigung mit dem Kinderalltag
und ein lebensweltbezogener Zugang zur Kindheit als Kultur, als Lebensform
– Konzepte, die in der Lebensraumstudie greifbar und anschaulich
wurden, und Desiderate der traditionellen pädagogischen und psychologischen
Thematisierung von Kindern. Vor allem während der 80er und 90er
Jahre sind zahlreiche sozialisationstheoretische, sozialraumanalytische und
kindheitshistorische Studien entstanden, die auf diesen Konzepten basierten.
Dieser Zugang zu Kindern und Kindheit hat auch die Reihe „Kindheiten“
stark geprägt, in der die Studie von Martha und Hans Heinrich Muchow
1998 zum zweiten Mal wieder veröffentlicht wurde. Die Lebensraumstudie
hat der entstehenden Kindheitsforschung ermöglicht, sich im Kontext
spezifischer Entwicklungslinien der Geschichte von Sozialwissenschaften
und Psychologie im 20. Jahrhundert zu verorten, und sie eröffnete ihr die
Möglichkeit, mit den internationalen, insbesondere den britischen social
studies of childhood zu kommunizieren, für die das Konzept der agency
(vgl. James 2009) leitend war und die mit der frühen deutschen Kindheitsforschung
den herrschaftskritischen, advokatorischen Impuls teilte.
Heute liest man Muchows Studie mit einem anderen Blick als bei der
Wieder-Veröffentlichung vor 35 Jahren. Der zeitliche Abstand und die Erfahrungen
der Rezeptionsgeschichte erleichtern es, zwischen dem theoretischen
Ansatz und den Problemstellungen der Studie einerseits und ihrer
Rezeption andererseits zu unterscheiden. Diese Unterscheidung hilft, die
grundlegenden Fragen zu erkennen, die uns die Muchows hinterlassen haben.
Wie muss man sich „Kinder“ vorstellen – als Entwicklungswesen, als
Menschen-in-Vorbereitung? Was bedeutet es, sie als „Subjekte“ zu verstehen?
Die Lebensraumstudie stellt sie als Mitglieder einer sozialen Welt der
Kinder vor und als Repräsentanten einer klassenspezifischen, „proletarischen“
Kindheit. Was hat es mit der „Perspektive“ des Kindes auf sich? Ist
dies ein psychologischer oder ein epistemologischer Begriff, oder handelt
es sich gar um einen anthropologischen Sachverhalt? Ist es eine Perspektive
„des Kindes“ oder „der Kinder“? Die Studie Muchows verbindet die Rede
von der „Perspektive“ mit der Lebenspraxis eines Kinderkollektivs und
lenkt damit die Aufmerksamkeit darauf, wie diese Perspektive praktisch
hervorgebracht wird. Was heißt das für den „Lebensraum“ – ist er eine performative
Wirklichkeit? Wie gestaltet sich die Relation von gegenständlichsozial
strukturierter Gegebenheiten – dem „Raum, in dem das Kind lebt“
(Muchow) – und dem „gelebten“ Raum? Und nicht zu vergessen: In welchem
Verhältnis steht die „Perspektive“ des Forschers/der Forscherin zu
der der Kinder?
Ein Schlüsselgedanke der Lebensraum-Studie ist das relationale Verhältnis
von Subjekt und Objekt, von „Kind“ und „Raum“; wenn sie vom
„Umleben“ des Raums spricht, spricht sie von der Person und ihrer Umwelt.
Im Kontext der Weimarer Kindheits- und Jugendforschung unterscheidet
sich dieser Ansatz ebenso sehr von einer biographischen Individualpsychologie
a la Charlotte Bühler (vgl. Bühler 1967/1928) wie er sich von
einem Konzept endogener Entwicklungsgesetzlichkeiten unterscheidet:
„Man muss, um sich mit dem Kind verständigen zu können, nicht nur wissen,
wie das Kind in der Welt lebt, sondern man muss auch wissen, in welcher
Welt es lebt.“ (Zinnecker i.d.B., S. 52) Das Konzept des „gelebten
Raums“ verabschiedet sich von der eingespielten Denkfigur, kindliche
Entwicklungsprozesse gleichsam im Schnittpunkt von endogenen Reifungsprozessen
und milieuspezifischen Einschränkungen anzusiedeln und
betont die aktive Rolle der „Sozialisanden“; damit nimmt sie akteursorientierte
Konzepte von Sozialisationsprozessen (vgl. Hurrelmann 1983) vorweg.
Das macht auch verständlich, warum die deutschsprachige Kindheitsforschung
sich nie derart radikal von der Sozialisationsforschung abgegrenzt
hat wie die angelsächsische und nordische Kindheitsforschung.
Muchows „gelebter Raum“ war indes keine Idee einer genialen Einzelnen,
sondern entsteht in einem intellektuellen Umfeld. Zinnecker erwähnt
in seinem Nachwort von 1998 die Hamburger Erziehungsbewegung der
20er Jahre als historischen Kontext; aber auch William Sterns personalistische
Psychologie (vgl. Stern 1914), vor allem aber das Feld-Konzept von
Kurt Lewin (1982/1951) dürften wichtige Einflüsse gewesen sein. Lewin
emigriert unter den Nazis in die USA ...