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Das Lernen der Kinder begleiten Bildung, Beziehung, Dialog. Ein Bildband
Das Lernen der Kinder begleiten
Bildung, Beziehung, Dialog. Ein Bildband




Rosy Henneberg, Lothar Klein, Gerd E. Schäfer

Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung GmbH , Klett
EAN: 9783780010575 (ISBN: 3-7800-1057-7)
174 Seiten, paperback, 22 x 23cm, 2011

EUR 24,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Rosy Henneberg, Jg.1956, ist Erzieherin und Fachkraft für Kindzentrierung mit Schwerpunkt Freinetpädagogik. Sie arbeitet seit 32 Jahren mit Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Seit 2005 ist sie als freiberufliche Praxisberaterin und seit 2007 als Erzieherin in einer privaten Krabbelstube tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Kindzentrierung, entdeckendes Lernen, „Ideenarbeit mit Kindern", Dialog, Dokumentation von Lerngeschichten, Portfolios und die Arbeit mit Kindern im Alter zwischen eins und drei Jahren.

Lothar Klein, Jg. 1950, ist Lehrer für die Sekundarstufe II und Diplompädagoge. Er kennt die Praxis der Freinetpädagogik in Kindertageseinrichtungen seit 1982 und war als Leiter Wiebadener Kindertagesstätten maßgeblich an der Entwicklung beteiligt. Seit 1995 arbeitet er freiberuflich in der Fortbildung von Erzieherinnen und als Autor. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Kindzentrierung, Lernen und Bildung, Regeln, Partizipation, Dialog, Jungen, Zusammenarbeit mit Eltern.

Gerd E. Schäfer ist Prof. i. R. für Pädagogik der frühen Kindheit an der Universität zu Köln und hat eine Professur mit gleicher Fachrichtung an der Hochschule für Künste in Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Frühkindliche Bildungsforschung, Naturwissen der Kinder, Ästhetische Bildung, Spiel. Mit dem Fortbildungsinstitut WeltWerkstatt e.V. bietet er Fortbildungen im Bereich der Frühpädagogik an.

Kinder vollbringen erstaunliche Leistungen, wenn Erwachsene ihre Tätigkeiten aufmerksam und wohlwollend begleiten und dabei versuchen, die Erlebniswelt der Kinder aus deren Sicht zu verstehen. Zentrum des Fotobandes sind 10 Bildergeschichten, die direkt aus dem Geschehen heraus fotografiert sind. Jede dieser Lerngeschichten wird unter einem bestimmten Beziehungsaspekt betrachtet. Zusammen vermitteln sie einen authentischen Eindruck, wie eine gleichwertige „Lern- und Forscherbeziehung" zwischen Kindern und Erwachsenen aussehen kann und von welchen Werten sie getragen sein muss. Sichtbar wird eine „Pädagogik des Innehaltens", die die Autoren auch in theoretischen Reflexionen über Beteiligung, Verständigung und gemeinsam geteilte Erfahrung zum Ausdruck bringen.
Rezension
Pädagogisch kommt es darauf an, dass Erwachsene aus ihrer eigenen Perspektive heraustreten können und wahrnehmen lernen, wie Kinder die Welt und sich selbst erleben, also aus Kindersicht zu verstehen: Was erzählen Kinder und wie kommentieren sie ihr Tun? Dabei geht es weniger um kindliches Wissen und Können als um kindliche Sicht- und Erlebnisweisen. Dazu gehört Beziehung - wie überhaupt Bildung der Beziehung bedarf; dieser Band dokumentiert mit Fotos eine lern- und entwicklungsförderliche Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern im Alter zwischen eins und drei Jahren. Er zeigt, zu welch erstaunlichen Leistungen es führen kann, wenn Erwachsene die Tätigkeiten der Kinder aufmerksam und wohlwollend begleiten und versuchen, die Erlebniswelt der Kinder aus deren Sicht zu verstehen.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Eine Landkarte kindlicher Sicht- und Erlebnisweisen
Die Autoren richten mit diesem Fotoband die Bildungsdiskussion auf die wichtige Komponente Beziehung und beziehen sie auf alltägliche Lernsituationen. Denn Bildung, Beziehung und Dialog gehören untrennbar zusammen.
Erfahren Sie, zu welchen erstaunlichen Leistungen es führen kann, wenn Erwachsene die Tätigkeiten der Kinder aufmerksam und wohlwollend begleiten und versuchen, die Erlebniswelt der Kinder aus deren Sicht zu verstehen.
Bildergeschichten, direkt aus dem Geschehen heraus fotografiert, zeigen Ihnen, wie eine lern- und entwicklungsförderliche Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern im Einzelnen aussehen kann. Die kurzen Beschreibungen enthalten teilweise wörtliche Kommentare der Kinder und verdeutlichen, wie schnell und einfach Beziehungen auf Augenhöhe entstehen können.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
(Rosy Henneberg/Lothar Klein) 8

A Erfahrungslernen, was ist das?
(Gerd E. Schäfer) 13

B Bildung in Beziehung
(Rosy Henneberg/Lothar Klein) 25

I Warme Knete
Wahrnehmen und Aufmerksamkeit schenken – Er fahrungen teilen 29

II Aarons Feuer-Werkstatt
Das „Unmögliche“ zulassen – Ideen er möglichen 41

III Melvin sägt
Mitschwingen, sich einlassen – Resonanz 55

IV Experimente mit Eis
Zum Ausprobieren ermutigen – Zutrauen schenken 65

V Apfelsaft und Apfelsine
Mitdenken, sich wundern – Fragen stellen 73

VI Jessicas Erdnussbutter
Eigene Ideen beisteuern – Beteiligung von Er wachsenen 81

VII Leonies siebte Windel
Sich verständigen – Dialog 89

VIII Portfoliogeschichten
Sammeln, ordnen und betrachten – Dokumentationen 97

IX Florian entdeckt die Wäscheklammern
Einbetten in soziale Bewer tungen – Rückmeldungen geben 107

X Welche Dinosaurier konnten Freunde sein?
Alles in allem – gemeinsam an Ideen arbeiten 115

C „ ... bereit, das Unmögliche zu denken, um das Wunderbare zu er fahren.“ –
Ein Gespräch über Neugier am Tun der Kinder

(Rosy Henneberg/Lothar Klein) 127

D Bildung und Partizipation
(Rosy Henneberg/Lothar Klein) 131

I Aarons Weltsicht
Geschichten erzählen – Er fahrungen verarbeiten 135

II Die Kakao-Erfindung
Das eigene Anliegen formulieren – an Erfahrungen anknüpfen 141

III ICE-Buch, Privaterzieherin und Glitzer
Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen – selbstbestimmt handeln 151

IV „Cat Familiy“ – Geronimo und Band
Auf Bündnisse vertrauen – die eigenen Möglichkeiten erweitern 157

V Das Bücher- und Kletterregal
Auf unterschiedliche Erwachsene treffen – den Handlungsspielraum ausdehnen 165

Literatur 173


Einleitung
Schon immer hat uns die Frage beschäftigt, wie
es Erwachsene lernen können, in Alltagssituationen
aus der eigenen Perspektive herauszutreten
und wahrzunehmen, wie Kinder die Welt
und sich selbst erleben. Wir haben begonnen,
im Nachhinein aufzuschreiben, was uns Kinder
erzählen und wie sie ihr Tun kommentieren. Wir
haben Bilder von Kindern, Produkte aus Werkstätten
und Faksimiles gesammelt, die etwas
über die Erlebniswelt von Kindern aussagen
können. Wir haben in Besprechungen mit Kindern
Protokoll geführt – und haben schon immer
mithilfe des Fotoapparates festgehalten, was im
Alltag geschieht. Dabei haben wir nicht vor allem
das gesammelt oder festgehalten, was uns
„gefällt“ oder was besonders gut herzuzeigen
wäre. Wir haben unser Augenmerk vielmehr
eher auf das gerichtet, was uns überrascht hat
und haben versucht, es aus Kindersicht zu verstehen.
Es ging uns also vor allem darum, eine
Landkarte kindlicher Sicht- und Erlebnisweisen
zu zeichnen und nicht um eine des kindlichen
Wissens oder Könnens. Die Ethik des Verstehens
war der Motor all unserer Beobachtungen und
Dokumentationen.
Wir lernten, an all diese Ereignisse und Dinge
möglichst ohne Vorannahmen heranzutreten
und sie selbst sprechen zu lassen. Wo wir etwas
nicht verstanden, haben wir die Kinder gefragt
und sie um Rat gebeten. Die Kinder kommentierten,
ergänzten oder korrigierten, und wir haben
gelernt, dass wir auch dann, wenn wir meinten,
etwas verstanden zu haben, ohne Verständigung
mit den Kindern oft falsch lagen. Auf diese Weise
haben wir mehr und mehr gelernt, die Ideen,
Vorgehensweisen oder Gedanken von Kindern
wert zu schätzen und zu achten, vor allem aber
nach dem Sinn zu forschen, der jeder kindlichen
Handlung zugrunde liegt.
Mit den Jahren entstand – vor allem bei Rosy
Henneberg – eine riesige Sammlung von Fotos
und Fotogeschichten. Dabei handelt es sich mit
wenigen Ausnahmen nicht um nachgestellte
oder arrangierte Fotos. Die wenigen nachgestellten
sind entstanden, weil Kinder Rosy Henneberg
selbst dazu aufgefordert haben. In diesem
Fall haben auch die Kinder selbst bestimmt, was
wie arrangiert wird.
Die verwendeten Fotos sind also nicht gemacht
worden, um die Aussagen, mit denen wir die
Kapitel einleiten, zu illustrieren. Nie haben
wir Situationen gesucht, um Fotos zu machen,
sondern umgekehrt: Zuerst war das Geschehen
und dann die Erkenntnis, zuerst das Foto und
dann der Text. Die Fotos sind demnach sämtlich
unmittelbar aus dem Geschehen heraus
entstanden. All den knappen, aber wie wir hoffen
grundlegenden Aussagen, mit denen wir
die Kapitel einleiten, liegen also Erfahrungen
zugrunde, die wir wiederum fotografisch festgehalten
haben.
Fotos sind für uns deshalb auch Mittler zwischen
dem Geschehen und der Reflexion darüber. Sie
sind eine Brücke zum besseren Verständnis dessen,
was Kinder tun. Sie sprechen eine eigene
Sprache. Zwar zeigen sie nur Augenblicke von
viel umfassenderen und verzweigten Abläufen
und Geschehnissen, aber sie halten Geschehen
viel komplexer fest, als dies die meisten Worte
tun könnten. Die Fotografie ist für uns ein Medium,
mit dem dreierlei festgehalten werden
kann:
Einleitung
Einleitung 9
4 Das, was gerade eben noch war.
Auch, wenn es auf dem Foto nicht sichtbar ist,
kann vermutet werden, was unmittelbar vor
der jeweiligen Aufnahme geschehen ist. Handelt
es sich um Fotogeschichten, können die
zeitlichen Zwischenräume beim Betrachten
durch ein Nachempfinden und Nachdenken
gefüllt werden.
4 Dass was in dem Moment geschieht, in dem
die Aufnahme entsteht.
Auch das ist allerdings nicht vollständig. Welchen
Ausschnitt wählt der fotografierende Erwachsene,
weshalb wählt er gerade diesen
speziellen Moment aus? Auch über das, was
zu sehen ist, müssen Erwachsene sich mit Kindern
verständigen, denn das Foto bzw. die
Auswahl des Augenblicks, des Ausschnitts
und der Blickrichtung sind Resultat ihrer eigenen
Wahrnehmung.
4 Das, was sein wird.
Die Situationen, die fotografiert wurden, liegen
unmittelbar danach und natürlich auch
beim Betrachten bereits in der Vergangenheit.
Ein Foto stellt also eine bestimmte Situation in
deren Gegenwart dar und gleichzeitig weiß
der Betrachter, dass diese Situation bereits
Vergangenheit ist. Das führt unmittelbar zu
Vermutungen darüber, wie die Geschichte
weiterging und was danach passiert sein
könnte. Am besten ist, wenn diese Vermutungen
ebenfalls in ein Gespräch mit Kindern
münden.
Entweder findet dieser Dialog in uns selbst statt
(Wie mag sich das Kind gefühlt haben? Was ist
eigentlich genau passiert? Welche Gedanken
mag sich das Kind gemacht haben?) oder die Fotobetrachtung
mündet in ein direktes Gespräch
mit dem Kind. Fotos und Dokumentationen sind
für uns also immer Instrumente des Dialogs mit
Kindern. Sie helfen uns zu verstehen und sind
Anlass für nachdenkliche Gespräche.
Wichtig zu betonen ist uns, dass zu den allermeisten
Fotos auch Gespräche mit Kindern stattgefunden
haben. Die Fotos wurden mit Kindern
gemeinsam betrachtet. Ihre Kommentare sind in
unsere Textbeschreibungen zum Teil wörtlich
eingeflossen. Zwar konnten wir nicht mehr jedes
Kind selbst fragen, ob es mit unserer Auswahl
zufrieden ist - dazu liegen manche der festgehaltenen
Situationen zeitlich schon zu weit zurück.
Wir meinen aber, dass die Kinder durch die mit
Ihnen geführten Gespräche die Fotos sozusagen
selbst autorisiert haben.
Die Bildgeschichten, für die wir uns entschieden,
sind allesamt der besseren Übersicht wegen gekürzt.
Rosy Henneberg, von der die allermeisten
stammen, geht beim Fotografieren so vor, dass
sie bewusst nicht vorher auswählt, sondern stets
erst ganze Fotoreihen macht. Auf diese Weise
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das, was den
betreffenden Kindern wichtig ist, auch festgehalten
wird. Oft wurde, sofern eine Fotogeschichte
für eine Dokumentation oder eine Veröffentlichung
vorgesehen war, zum Schluss mit den
Kindern gemeinsam sortiert, ausgewählt und
zusammengestellt.
Nicht alle Bildgeschichten werden hier zum ersten
Mal veröffentlicht. Sie sind zum Teil bereits
in anderer Form und meist auch mit einem anderen
Fokus in Zeitschriftenartikeln erschienen.
10 Einleitung
Wir haben uns dennoch dafür entschieden, sie
auch hier aufzunehmen, weil wir davon ausgehen,
dass nicht jeder diese Artikel kennt und weil
wir sie zum anderen für besonders aussagekräftig
halten. Die „Sammlung“ wäre einfach ohne
diese Geschichten unvollständig.
Ursprünglich sollte dies ein Buch werden, in
dem wir anhand von Lerngeschichten sichtbar
machen wollten, wie eine Kindertagesstätte
aussehen kann, die sich insgesamt als Lernwerkstatt
versteht. Am Anfang wollten wir uns
abheben von der inflationären Einrichtung von
„Lernwerkstätten“ in speziell dafür vorgesehenen
Räumen und deutlich machen, dass „Lernwerkstatt“
ein Gedanke ist und kein Raum. Mit
der Zeit hat sich unser Vorhaben etwas verändert,
weil sich die Bildungsdiskussion in schnellen
Schritten weiterentwickelt hat. Heute sind
wir aber wieder bei der alten pädagogischen
Grundsatzfrage angekommen, inwieweit und
auf welche Weise Beziehungen Einfluss nehmen
auf das Lernen. Zu sehr richtet die Bildungsdiskussion
unserer Auffassung nach zurzeit
ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich
auf Räume, Material und Arrangements und
zu wenig auf die mindestens ebenso wichtige
Komponente „Beziehung“. Das bedeutet natürlich
nicht, dass wir Material, Räume und
Arrangements für minder bedeutend hielten.
Sie alleine reichen aber nicht aus, damit Kinder
tiefgreifende Lernerfahrungen machen.
Für die Fotogeschichten bedeutet dies, dass sie
meist nur implizit darstellen, was im Text beschrieben
wird. Sie sind in anderen Zusammenhängen
und mit anderer Zielsetzung entstanden.
Beziehungsqualitäten sind im Übrigen für Menschen,
die wie wir keine Fotokünstler sind, im
Bild schwer darzustellen. Rückmeldungen von
Erzieherinnen haben uns allerdings ermutigt, es
dennoch zu versuchen. Die einleitenden Texte
helfen dabei, die jeweilige Beziehungsqualität
hinter den Fotos zu erkennen.
Jeder von uns kann sich an Personen erinnern,
die einen besonderen Stellenwert in unserem
Leben und für unser Lernen eingenommen haben.
Oft sind es Personen, mit denen uns formal
gar nicht allzu viel verbunden hat oder solche,
mit denen die Beziehung zeitlich begrenzt war,
Personen aber, die nachhaltig auf unser Lernen
eingewirkt haben.
„Tante Erna“ und der Lehrer Aumann sind solche
Personen. „Tante Erna“ war gar keine Tante.
Sie wohnte bloß in derselben Straße, ein paar
Häuser weiter. Als Kind war man jederzeit willkommen,
bekam fast immer irgendetwas zu tun
und konnte meistens bei irgendetwas helfen. Es
war aber auch erlaubt, bloß dazusitzen, ihr zuzusehen
und den angebotenen Apfel oder etwas
Anderes zu essen. Dabei entwickelten sich Gespräche
über „Gott und die Welt“ und über das
Leben und Erlebnisse. „Tante Erna“ hatte Zeit
und sie schenkte Aufmerksamkeit und Resonanz
im Überfluss. Jede Frage war willkommen und
wurde eingehend betrachtet.
Auch der Grundschullehrer Aumann war solch
ein Mensch. Er interessierte sich nicht nur für
die schulischen Leistungen, sondern auch für
all die anderen großen und kleinen Lebensfragen,
mit denen wir Kinder uns herumschlugen:
Weshalb haben die Amerikaner Kaugummis und
wir nicht? Weshalb ist Englisch in der Welt soviel
Einleitung 11
stärker verbreitet als Deutsch? Wieso knallen
die Knallerbsen? Fliegen wir irgendwann zum
Mond? Und auch so manche Briefmarkensammlung
fand sein Interesse, nicht nur wohlwollend
gütig, sondern mit echten Fragen und echter
Anteilnahme. Er erkundigte sich beispielsweise
sehr aufmerksam nach den Systemen, die
wir entwickelt hatten, um unsere Briefmarken
zu ordnen oder danach, welche uns am besten
gefiel und weshalb. Dann konnte es geschehen,
und er überraschte uns mit einer Briefmarke, die
er uns schenkte und die genau unseren Kriterien
entsprach.
Was aber war es genau, was dazu geführt hat,
dass diese Lernbegleiter so wichtig wurden für
uns? Welche Art von Beziehung sind sie mit uns
eingegangen und wir mit ihnen? Und, sollten
Erzieherinnen sich an „Tante Erna“ und „Lehrer
Aumann“ ein Beispiel nehmen? Ist das überhaupt
möglich, wenn sie es statt mit einem mit
15, 20 oder sogar 25 Kindern zu tun haben? Wie
müsste der Alltag in der Kindertagesstätte aussehen,
der ein wenig von der Beziehungsqualität
ermöglicht, die wir als Kinder von all den „Tante
Ernas“ und „Lehrer Aumanns“ erfahren haben?
Diesen Fragen wollten wir angesichts gegenläufiger
Tendenzen in der Bildungsdiskussion
nachgehen.
Bildungstheoretisch können wir beobachten,
dass die große Bedeutung von Beziehungen
und damit die emotionale und soziale Seite
des Lernens zwar einerseits immer wieder theoretisch
betont, andererseits aber dann deutlich
vernachlässigt wird, wenn pädagogische
Schlussfolgerungen gezogen werden. In der öffentlichen
Diskussion tritt immer deutlicher eine
auf kurzlebige Resultate orientierte Sichtweise
hervor. Die Flut der Curricula, die den Markt
zurzeit überschwemmen, macht das mehr als
deutlich. Betritt man heute eine durchschnittliche
Kindertagesstätte, fallen einem unwillkürlich
schon im Eingangsbereich die unzähligen
Frühförderangebote auf: Englisch, Schwimmen,
kreative Tätigkeiten, Mathematik, Naturwissenschaft
usw. usw. Seitdem die Hirnforschung die
hohe Flexibilität des menschlichen Gehirns im
Allgemeinen und des kindlichen im Besonderen
nachgewiesen hat, orientieren sich Pädagogen,
Wissenschaftler und Eltern immer mehr am theoretisch
„Machbaren“. Die Versuchung, noch
verstärkter von außen auf die Entwicklung des
kindlichen Gehirns einzuwirken, ist groß.
Doch selbst in der durchaus auf Wertschätzung
kindlicher Lernaktivitäten ausgerichteten pädagogischen
Diskussion ist häufig zu beobachten,
dass die moderne Sichtweise von einer konsequent
begleitenden Rolle der Erzieherin nicht
immer durchgehalten wird. Selbst die heute
hochgelobte pädagogische Interventionskette
Beobachten – Diskutieren – Dokumentieren –
Beantworten bleibt aus unserer Sicht zu sehr in
einer mehr oder weniger belehrenden Rolle stecken.
Denn erstens kommt es darauf an, in welcher
Weise Kinder an jedem dieser vier Schritte
beteiligt sind; dazu werden wir ausführlicher im
Kapitel „Bildung und Partizipation“ eingehen.
Und zweitens scheint uns die Frage wichtig, wie
der Prozess des „Beantwortens“ durch Erwachsene,
also ihre eigentliche pädagogische Intervention,
denn genau aussieht.
Bildungspolitisch sehen wir die Gefahr, dass einerseits
die Aufgabenbereiche von Erzieherin-
12 Einleitung
nen kontinuierlich zunehmen und andererseits
die Rahmenbedingungen nicht einmal ansatzweise
diesen Anforderungen entsprechen. Hier
stehen zumindest auf mittlere Sicht auch keine
Veränderungen an. Solange der Betreuungsschlüssel
bleibt wie er ist und solange Bildung
in letzter Konsequenz doch weiterhin mehr oder
weniger als Instruktion begriffen wird, sind Beziehungen
als wichtiger Motor für Entwicklung
gefährdet und zwar zeitlich und emotional.
Da wundert es auch nicht, dass wir immer öfter
die Erfahrung machen, dass Erzieherinnen
formulieren, sie hätten viel zu wenig Zeit, sich
wirklich einzulassen auf die unterschiedlichen
Lernwege und Themen der Kinder. Wenn wir
dann daran gehen, uns ganz konkret anzusehen,
welche Aktivitäten ihre Zeit in welcher Form
in Anspruch nehmen, entstehen erschreckend
lange Listen diverser Angebote und Aktivitäten,
die sich zwar oft auf Beobachtungen von Kindern
stützen, aber nicht wirklich aus dem Alltag der
Kinder heraus und vor allem nicht im Dialog mit
ihnen entstanden sind.
Fordern wir dann auf, zu streichen und sich „wieder
mehr Zeit für Beziehungen“ zu nehmen, ist
der Widerstand dennoch enorm. Eltern würden
eben genau die Angebote fehlen, die suggerieren,
ihr Kind habe viel gelernt. Erzieherinnen
würde ein Teil der Legitimation abhanden kommen,
die sie vorgeblich benötigen, um vor den
kritischen Augen der Öffentlichkeit bestehen
zu können.
Erzieherinnen spüren, dass hier etwas schief
läuft. Sie wünschen sich, dass sie Kindern das
schenken können, was der Schweizer Kinderarzt
und Pädagoge Remo Largo als das Wichtigste
beschreibt, nämlich Zeit und Aufmerksamkeit.
Bildung, Beziehung und Dialog, das sind drei
Begriffe, die unserer Auffassung nach untrennbar
zusammengehören. In einem Alltag, in dem
die Zeitrhythmen der Kinder die dominierenden
sind und Erwachsene sich, statt innerlich bereits
mit dem nächsten Angebot beschäftigt zu sein,
auf das beziehen können, was gerade ist, können
sich Beziehungen und Dialog gut entfalten. In
welcher Weise dies ein Lernen, dem die eigenen
Erfahrungen zugrunde liegen, erst ermöglicht,
möchten wir in diesem Buch vor allem in Form
von Bildergeschichten darstellen.