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Bildung und Biographie Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung
Bildung und Biographie
Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung




Thorsten Fuchs

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EAN: 9783837617917 (ISBN: 3-8376-1791-2)
444 Seiten, paperback, 15 x 22cm, 2011

EUR 35,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die erziehungswissenschaftliche Diskussion um das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung wird zwar ambitioniert geführt, blieb aber bislang weitgehend folgenlos: Positionen, die Bildungstheorie und Bildungsforschung als zuwiderlaufend ansehen, stehen gegen Ansätze, die der Abstraktheit ›bloßer‹ Theorie durch eine methodisch kontrollierte und empirisch differenzierte Forschung zu entgehen versuchen.

Bezugnehmend auf diese weit verzweigte Diskussion setzt sich Thorsten Fuchs mit der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung und deren Anspruch, zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu vermitteln, auseinander. Sein konstruktiver Entwurf einer qualitativ-empirischen Studie, in der lebensgeschichtliche Erzählungen von Jugendlichen ›in biographie- und bildungstheoretischer Absicht‹ gedeutet werden, ermöglicht so zugleich eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung.
Rezension
Im Zentrum dieser qualitativ-empirischen Studie stehen lebensgeschichtliche Erzählungen von Jugendlichen (vgl. Kap. 5), die in biographie- und bildungstheoretischer Absicht gedeutet werden. Damit möchte der Autor die Kluft zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung pragmatisch überwinden und eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung ermöglichen, die nicht die ›Was-ist-Bildung?‹-Ebene fokussiert und sagt, was ›Bildung‹ ist oder sein soll, sondern in den Blick nimmt, wie ›Bildung‹ überhaupt möglich werden kann. Er plädiert für einen Perspektivenwechsel, der den Bildungsdiskurs vom Niveau hoher und gleichsam abstrakter ›Feierlichkeit‹ auf die Ebene des Konkreten holt und mit realen Biographien abgleicht.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Bildungstheorie, Qualitative Bildungsforschung, Biographieforschung, Jugendforschung
Adressaten:
Erziehungswissenschaft, Philosophie, Psychologie, Soziologie

Thorsten Fuchs (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bildungstheorie, Qualitative Biographie- und Bildungsforschung sowie pädagogische Jugendforschung.
WWW: Uni Gießen

zur Reihe:
Editorial
Bildung und Erziehung sind - trotz wechselnder Problemlagen - ein konstantes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Erziehungswissenschaft erweist sich in dieser Situation zugleich als Adressat, Stimulanz und Sensorium verschiedenster Debatten, die ins Zentrum sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fragen zielen. Die Reihe Pädagogik stellt einen editorischen Ort zur Verfügung, an dem innovative Perspektiven auf aktuelle Fragen zu Bildung und Erziehung verhandelt werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung | 9

Einleitung | 11

I. SKEPTISCH-DISKURSIVES

1 Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart –
Konturen eines ambivalenten Verhältnisses | 31

1.1 Bildungstheorie und Bildungsforschung als Diametralitätsverhältnis | 36
1.1.1 Reaktionen auf pädagogische Versäumnisse | 37
1.1.2 Konsolidierungsverluste | 44
1.1.3 Abwege und Kontroversen | 47
1.1.4 Dauerhafte Animositäten | 52
1.2 Bildungstheorie und Bildungsforschung als Komplementaritätsverhältnis | 57
1.2.1 Innerdisziplinäre Strukturierungsmaßnahmen | 60
1.2.2 Bildungssemantische Neubelebungen | 70
1.2.3 Annäherungsarenen im Kontext qualitativer Forschung | 77

2 Vermittlung – Die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung | 85

2.1 Die Auslegung lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse in hochkomplexen Gesellschaften:
Der Ansatz von Winfried Marotzki | 93
2.2 Die rhetorische Analyse biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne: Der Ansatz von Hans-Christoph Koller | 114
2.3 Die Erforschung geschlechtskonstruierender Bildungsprozesse zwischen Moderne und Postmoderne:
Der Ansatz von Heide von Felden | 138
2.4 Die empirische Rekonstruktion spontaner Bildungsprozesse in individuellen und kollektiven Handlungspraktiken:
Der Ansatz von Arnd-Michael Nohl | 158
2.5 Befunde zur Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung – Einordnungen und Weiterführungen | 180

II. QUALITATIV-EMPIRISCHES

3 Lebensgeschichtliche Erzählungen und ›Bildungsgestalten‹ – Biographie- und bildungstheoretische Markierungen | 191

3.1 Biographietheoretische Annäherungen | 194
3.1.1 Lebensgeschichten als artikulierte Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse | 195
3.1.2 Biographische Bewusstheit und narrative Konstruktion | 201
3.1.3 Topoi lebensgeschichtlicher Erzählungen | 205
3.2 Bildungstheoretische Schärfungen | 210
3.2.1 Aufgabenhafter Entwicklungsgang | 216
3.2.2 Befragende Nachdenklichkeit | 229
3.2.3 Problematisierender Vernunftgebrauch | 248
3.3 Eine Synopsis der biographieund bildungstheoretischen Markierungen | 254

4 Design und Methode –
Zur biographie- und bildungstheoretischen Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher | 265

5 Rekonstruktion und Interpretation –
Lebensgeschichtliche Erzählungen Jugendlicher in biographie- und bildungstheoretischer Absicht | 279

5.1 »Ich empfinde das nicht als Grund einen Glauben anzunehmen« – der 18-jährige Marc | 280
5.1.1 ›Du-Bezogenheit‹ – die zentrale Bedeutung der Mutter im Leben Marcs | 284
5.1.2 Der Versuch einer Wertsteigerung des eigenen Ich und die Erwägung, soziale Anerkennung
durch eine religiöse Konversion zu erfahren | 291
5.1.3 Das Bedürfnis nach Freundschaft und die Überwindung sozialer Exklusion als biographisches Projekt | 298
5.1.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Selbstverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Marcs | 307
5.2 »Hab ich auch mit meinen Eltern darüber geredet und gefragt warum sie nich ma irgendwie im Urlaub mit meiner Schwester geredet haben« – die 17-jährige Natalie | 312
5.2.1 Das Erleben von Emotionalität und der Wunsch des Aufwachsens in ›intakten‹ Familienverhältnissen | 315
5.2.2 Selbsttätigkeit und das ›Management‹ familialer Sozialbeziehungen | 321
5.2.3 Das Erkennen von Zusammenhängen und die Suche nach ›Wahrheit‹ | 329
5.2.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Fremdverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Natalies | 336
5.3 »Was ich eigentlich am liebsten machen möchte is eigentlich der Tierschutz« – die 19-jährige Sonja | 340
5.3.1 Die Übernahme der Werte des gleichaltrigen Vorbildes und die Faszination des Außeralltäglichen im Rahmen szenespezifischer Aktivitäten | 345
5.3.2 Momente des Transzendierens und die Verarbeitung von Verlusten | 352
5.3.3 Die Formulierung von Sinnfragen und der Einsatz für den Tierschutz | 361
5.3.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Weltverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Sonjas | 368

6 Ich, Andere und Welt –
Die vergleichende Analyse der ›Bildungsgestalten‹ und die Rückbindung an die Befunde zur Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung | 375

6.1 ›Bildung‹ und Biographie in dreifacher Verhältnisbestimmung | 376
6.2 ›Bildung‹ in Biographischem jenseits von Wandlungsprozessen | 384

Ausblick:
Bildungstheorie, Bildungsforschung und die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung – neue Perspektiven und alte Probleme | 393

Literaturverzeichnis | 399
Namenverzeichnis | 433
Anhang | 439
Überblick über die Interviewpartnerinnen und -partner | 439
Abbildungsverzeichnis | 439
Tabellenverzeichnis | 440


Leseprobe:
Einleitung
Bildungsdebatten beschäftigen sich zumeist mit solchen Fragen, denen es um die
Bestimmung und den Sinn von ›Bildung‹ geht. Das geschieht z.B. in Form der
Frage: Was ist ›Bildung‹, und welche Bedeutung kommt ihr unter den vorherrschenden
gesellschaftlichen Bedingungen zu? Als Antworten werden hierauf
dann im weitesten Sinne kategoriale Erläuterungen vorgelegt, etwa wenn es
heißt, dass ›Bildung‹ die Ausstattung eines Menschen zur erfolgreichen Bewältigung
künftiger Lebenssituationen sei oder sie in einem rohstoffarmen Land diejenige
Ressource darstelle, die die Wettbewerbsfähigkeit in einer Wissensgesellschaft
sichere und der daher eine äußerst wichtige soziale Bedeutung beizumessen
sei. Neben solchen inhaltlichen Charakterisierungen von ›Bildung‹ – seien
sie nun in ihren Ausführungen als berechtigt anzusehen oder auch nicht – lässt
sich in erziehungswissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen seit einigen
Jahren bereits eine Fragerichtung ausmachen, die nicht die ›Was-ist‹-Ebene fokussiert
und zuvörderst sagt, was ›Bildung‹ ist oder sein soll, sondern in den
Blick nimmt, wie ›Bildung‹ überhaupt möglich werden kann. Wenngleich eine
solche Fragerichtung freilich auch an die inhaltliche Bestimmung von Bildung
gebunden ist, plädiert sie für einen Perspektivenwechsel, der den Bildungsdiskurs
vom Niveau hoher und gleichsam abstrakter ›Feierlichkeit‹ auf die Ebene
des Konkreten holt und zu klären versucht, wie die Beschreibungen zum Bildungsbegriff
wirklich werden können. Es geht dieser Fragerichtung also darum,
die konkreten Bedingungen von Bildungsprozessen aufzuklären und empirische
Anschlüsse des bildungstheoretischen Denkens herzustellen. Die hierbei im Mittelpunkt
stehende Frage heißt dann: »Wie ist Bildung möglich?« (Miller-Kipp
1992; Tenorth 2003; Wigger 2009), und genau um eine solche Vergegenständlichung
bzw. ›Empirisierung‹ des Bildungsdiskurses geht es, wenn beispielsweise
angemahnt wird, dass die Erziehungswissenschaft nicht immer wieder zu beschwören
habe, was Bildung sein solle, sondern auf Basis eines eigens generierten
Forschungsprogramms zu untersuchen habe, auf welche Weise etwa Erzie12
| BILDUNG UND BIOGRAPHIE
hungsprozesse konkret zur Möglichkeit von ›Bildung‹ beitragen können (vgl.
Tenorth 1988: 242). Sie tritt auch dann hervor, wenn die Fokussierung auf sich
faktisch vollziehende Bildungsprozesse für die Theorie der Bildung als unabdingbar
ausgewiesen wird, sofern diese sich nicht mit der Propagierung einer
bloßen »Postulatepädagogik« (Gruschka 1992: 357) begnügen will; die Formulierung
wirklichkeitsfremder Ziele hat die Bildungstheorie demnach zu vermeiden
(vgl. Koller 2002: 93). Schließlich leuchtet die ›Empirisierung‹ des Bildungsdiskurses
auch dann auf, wenn darauf hingewiesen wird, dass es nicht
sinnvoll sein könne, von einer ›Bildung‹ zu reden, sie zu fordern und fördern zu
wollen, die man aber letztendlich für nicht fassbar und nicht messbar halte (vgl.
Heid 2004: 460). So ist es die empirisch unaufgeklärte Genese von ›Bildung‹,
die als dringliches Problem angesprochen und deren Bearbeitung über die Erzeugung
eines auf sie gerichteten empirischen Forschungswissens eingefordert wird.
In diesem Verständnis gilt es daher auch als zentrale und zeitgemäße Aufgabe
der Erziehungswissenschaft, den Bildungsbegriff empirisch zu unterlegen und
die bildungstheoretische Reflexion mit der Erforschung von Bildungsprozessen
so zu verbinden, dass eine ›Verknüpfung‹ von Theorie und Empirie realisiert
wird.
Überlegungen, die eine solche Kombination aus bildungstheoretischem Räsonnement
und empirisch-bildungsbezogenem Forschen mit Vehemenz stark
machen und ihr Fehlen im Kernbestand der gegenwärtigen Ausrichtung der Erziehungswissenschaft
monieren, mögen auf den ersten Blick vielleicht verwunderlich
erscheinen. Gehören Theorie und Empirie in einer wissenschaftlichen
Disziplin nicht zusammen? Ist es nicht gerade beim Thema ›Bildung‹ erforderlich,
Theorie und Empirie in einen Verweisungszusammenhang zu bringen, damit
einerseits Reflexionen zur ›Bildung‹ gesellschaftliche Relevanz erlangen und
andererseits empirische Phänomene im Zusammenhang von ›Bildung‹ auch angemessen
gedeutet werden können? Was aus dem Blickwinkel der Alltagswelt
oder auch aus dem einiger anderer Disziplinen eine Selbstverständlichkeit darstellen
mag, gestaltet sich in der Pädagogik zuweilen schwieriger – oder in anderen
Worten: »Mit dem Verhältnis von Theorie und Erfahrung in der Pädagogik
stimmt etwas nicht.« (Ruhloff 1983a: 419) Das wird schon bei einem kurzen
Blick auf die jüngere Geschichte des Fachs augenscheinlich. Denn seit der Entstehung
eines Forschungskonglomerats, das es sich unter dem Namen ›Bildungsforschung‹
zur Aufgabe gemacht hat, pädagogische Sachverhalte und Fragen
konsequent mit empirischen Methoden zu bearbeiten, um so zu Fakten einer
›Bildungswirklichkeit‹ zu gelangen, gilt das Verhältnis von jenen empirisch basierten
Zugängen und solchen, die Pädagogisches mit philosophisch-bildungstheoretischen
Analysen verfolgen, als gespannt (vgl. Ingenkamp 1983). Beide
EINLEITUNG | 13
Bereiche treten als zwei unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge mit je eigenen
Verfahrensweisen und Rationalitäten in Erscheinung, die sich abgesehen
vom gemeinsamen Bestimmungswort und einer im weitesten Sinne auf pädagogische
Fragestellungen ausgerichteten Orientierung kaum durch Gemeinsamkeiten
auszeichnen. Stattdessen ist es vielmehr die Verschiedenartigkeit beider Bereiche,
die auffällt. Deutliche Abgrenzungsbedürfnisse prägen deshalb auch das
Bild von Bildungstheorie und Bildungsforschung und finden ihren Niederschlag
in der bildungstheoretischen Kritik an der Bildungsforschung sowie der Distanzierung
der Bildungsforschung von bildungstheoretischen Reflexionen.
Betrachtet man die disziplinäre Entwicklung der Erziehungswissenschaft in
Deutschland seit den Nachkriegsjahren, dann treten diese Distanzierungen und
Spannungen zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung bereits in den
1960er und 1970er Jahren klar hervor. Es ist die Zeit der Umbrüche in der wissenschaftlichen
Pädagogik, die den Status bildungstheoretischen Denkens unsicher
werden lässt und zugleich die Entthronung der Allgemeinen Pädagogik mitsamt
der von ihr verwalteten Bildungstheorie nach sich zieht. Denn die bis dato
zwar nicht unbedingt homogene, aber aus der Beschäftigung mit Bildungstheorie
und Erziehungsphilosophie heraus gestaltete disziplinäre Identität der Pädagogik
zerbricht in den Wirren des Positivismusstreits endgültig, nachdem sie seit der
Wiederaufnahme der geisteswissenschaftlicher Theoriebestände ab 1945 bereits
zunehmend fragil wurde (vgl. Vogel 1997a: 65). Es sind nun harte empirische
Fakten und deren Aufspüren in der Bildungswirklichkeit, die in einer empirisch
ausgerichteten Erziehungswissenschaft zählen und die die neue Deutungshoheit
bilden. Auch anschließend unter den pädagogischen Adaptionen der Kritischen
Theorie und der damit verbundenen Eindämmung der empirischen Erziehungswissenschaft
kann das ›Proprium‹ der Pädagogik nicht wieder aus der Bildungstheorie
heraus begründet werden, zumal der innerdisziplinäre Siegeszug der kritisch-
emanzipatorischen Erziehungswissenschaft durch die Ergebnisse der empirischen
Sozialforschung vorangetrieben wurde (vgl. ebd.).
Auf dem Rücken dieser Entwicklungen hat in den vergangenen vierzig bis
fünfzig Jahren die Bildungsforschung einen rasanten Aufstieg errungen, indem
sie über die bisherigen Aufgaben wissenschaftlicher Pädagogik hinaus Voraussetzungen
und Möglichkeiten von Bildungs- und Erziehungsprozessen im institutionellen
und gesellschaftlichen Kontext untersucht und damit dem steigenden
Bedarf an wissenschaftlichen Informationen für eine rationale Begründung bildungspolitischer
und bildungspraktischer Entscheidungen nachkommt. Als Systematisierung
und Methodisierung der Beobachtung von Entwicklungen im Bildungswesen
wurde Bildungsforschung damit Teil des »wissenschaftlichen Bemühens,
das Werden des Menschen unter jeweiligen soziokulturellen Bedingun14
| BILDUNG UND BIOGRAPHIE
gen […] in seiner Faktizität zu untersuchen« (Fend 1990: 694). In diesem primär
auf Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher Bedingungen und Zusammenhänge
ausgerichteten Wissenschaftszweig hatten die bis dahin dominierenden
pädagogischen Theorien und Begriffe jedoch keinen Platz, und »in dem
neuen sozialwissenschaftlich konturierten Verständnis von Bildungsprozessen
schienen Bildungstheorie und Bildungsbegriff zunächst keine Rolle mehr zu
spielen« (Ehrenspeck 2004: 67). Mit ihren Erkenntnissen zur sozialen Ungleichheit
im Bildungssystem, die in den 1960er Jahren mittels soziographischer Studien
zur Bildungsbeteiligung erlangt und etwa von Hans-Günter Rolff (1967)
aussagekräftig gebündelt wurden, widersprach die Bildungsforschung sogar der
»Idee der formal gleichen Bildungschancen, also der allgemeinen Möglichkeit
des Individuums, eine seiner individuellen Eignung und Neigung entsprechende
Bildung zu erwerben« (Tippelt 1998: 242); einer Auffassung also, die seit der
Blütezeit bildungstheoretischer Theoriebildung kaum in Frage gestellt wurde.
Mit dem Einzug der zuerst außeruniversitär platzierten Bildungsforschung in die
Universitäten ist auch die Fokussierung auf bildungstheoretische Reflexionen,
die bis dahin durchaus als das Zentrum der Pädagogik angesehen wurden, bisweilen
gänzlich aufgegeben und der Bildungsbegriff wegen seiner Herkunft und
seiner mangelnden ›Empiriefähigkeit‹ durch so genannte »theoretische Äquivalente
« (Hansmann 1988), d.h. durch psychologische und soziologische Begriffe
wie Lernen, Identität, Qualifikation oder auch durch Personalisation und insbesondere
Sozialisation zu ersetzen versucht worden. So beschreibt etwa Herwig
Blankertz aus dieser Zeit heraus den schwierigen Stand, den der Begriff ›Bildung‹
im zeitgenössischen pädagogischen Diskurs der 1960er und vor allem
70er Jahre besaß:
»Gegenwärtige Versuche, in der wissenschaftlichen Diskussion den Bildungsbegriff gänzlich
zu vermeiden, sind doppelt motiviert: einerseits geht es Vertretern einer streng erfahrungswissenschaftlich-
positivistischen Konzeption von Pädagogik darum, alle Begriffe
mit Wertbezügen – und ›Bildung‹ gehört zweifellos dazu – auszuschließen und in den Bereich
der Ideologie […] abzudrängen. Andererseits steht heute jeder auf Bildung bezogene
Begründungszusammenhang unter dem Ideologieverdacht der kritischen Sozialwissenschaft
[…], das heißt unter dem Verdacht, durch Transzendierung der Wirklichkeit von
den vorgegebenen Verhältnissen abzulenken und diese eben dadurch zu rechtfertigen, so
daß der Verzicht auf den Bildungsbegriff auch für nichtpositivistische Positionen zumindest
entlastend erscheinen kann.« (Blankertz 1974: 65)
Der Versuch, das Wort ›Bildung‹ in der pädagogischen Fachsprache zu vermeiden,
blieb allerdings erfolglos, sodass es mit der stetigen Ausbreitung der empiEINLEITUNG
| 15
rischen Erforschung des Bildungswesens nicht zur vollständigen Auflösung von
Bildungsbegriff und -theorie gekommen ist, sondern diese gleichwohl ihren
Platz im Gesamtgefüge erziehungswissenschaftlicher Themen finden und festmachen
konnten. Allerdings hat seitdem ein nicht unerheblicher Gestaltwandel
wissenschaftlicher Pädagogik stattgefunden, sodass es angesichts von disziplinären
Neuvermessungen wohl auch als unstrittig angesehen werden dürfte, dass
seit den 1960er Jahren die bildungstheoretische Perspektive insofern an Bedeutung
verloren hat, als sie allmählich durch eine sozialwissenschaftliche Forschungsorientierung
überlagert wurde. Dass das Thema ›Bildungsforschung‹ inzwischen
in aller Munde ist, das Profil zahlreicher erziehungswissenschaftlicher
Abteilungen prägt und schon längst nicht mehr nur mit den institutionellen Vorreitern
dieses Forschungskonglomerats identifiziert wird, kann insofern auch als
ein Syndrom dieser Veränderungen verstanden werden, die keineswegs die Erscheinungsweisen
einer »stillen Revolution« (Baumert/Roeder 1994) haben.
Ausweitungen der Bildungsforschung präsentieren sich nämlich nicht als eine
auf leisen Sohlen daherkommende Expansion dieses Forschungsfeldes, sondern
haben zu gleichsam unüberhörbaren Neuregulierungen der Erziehungswissenschaft
geführt und hierbei eine Situation geschaffen, in der Bildungstheorie und
Bildungsforschung gegenwärtig auch in nicht-sachlichen Belangen miteinander
konkurrieren. Konkurriert wird auch um die disziplinäre Reputation, das finanzielle
Budget und personale Ressourcen, wobei es die ›traditionelle Pädagogik‹
in Gestalt der Bildungstheorie ist, die hier ins Hintertreffen zu geraten scheint
und die es bei aller Ubiquitätseuphorie in Sachen ›Bildungsforschung‹ sowohl in
disziplinimmanenten als auch in öffentlichen Diskursen zunehmend schwerer
hat, Anerkennung für ihre Leistungen zu finden. Etliche pädagogische Institute
haben derweil – will man es drastisch ausdrücken und sich dem Wortlaut der
einschlägigen Kritiker an dieser Entwicklung anschließen – gerade auch durch
Umwidmungen von Hochschullehrerstellen den skizzierten Paradigmenwechsel
zu ›spüren‹ bekommen (vgl. z.B. Ruhloff 2005: 382f.; Gruschka 2008 und 2006:
141; Poenitsch 2008: 54ff.).
Bliebe es bei diesem skizzierten Bild, dann wäre zwar deutlich, warum sich
die Pädagogik mit der Verbindung von Theorie und Empirie auf dem Gebiet der
›Bildung‹ schwer tut, ihre jüngere Geschichte würde allerdings nur einseitig gelesen
und eine andere – dieser ersten Entwicklung zuwiderlaufende – Lesart verschwiegen
werden. Es ist diese anders ausgerichtete Lesart, die eine Verbindung
von Bildungstheorie und Bildungsforschung nun nämlich nicht in weite Ferne
rückt, sondern in den Bereich des Möglichen ›katapultiert‹. Möglich ist eine solche
Verbindung nun gerade deshalb, weil es trotz des Bedeutungsverlusts bildungstheoretischen
Denkens nicht zu seiner Auflösung gekommen ist, sondern
16 | BILDUNG UND BIOGRAPHIE
etwa seit dem Beginn der 1980er Jahre eine Renaissance der Bildungssemantik
und eine Regeneration bildungstheoretischer Überlegungen zu verzeichnen sind.
In diesem Zusammenhang lässt sich sogar von einer ›Rephilosophisierung‹ der
erziehungswissenschaftlichen Kommunikation sprechen und verdeutlichen, wie
neben dem Bildungsbegriff auch andere philosophisch fundierte Begriffe seit
den 1980er Jahren eine Konjunktur erleben (vgl. Stroß/Thiel 1998). Nach der
Phase der Deszendenz von Bildungsbegriff und Bildungstheorie, die mit dem
Aufkommen der Bildungsforschung und der Ausbreitung empirisch-pädagogischer
Forschung einsetzte, kann seitdem wieder eine stärkere Besinnung auf den
einstmaligen pädagogischen Leitbegriff festgestellt und so ein Bedeutungsgewinn
bildungstheoretischer Überlegungen in den erziehungswissenschaftlichen
Diskussionen ausgemacht werden. ›Bildung‹, so wird diese Entwicklung zumeist
gedeutet, scheint bei aller Verschiedenheit der jeweiligen Verwendungsweisen
als zentrale Orientierungskategorie für die pädagogische Reflexion doch in bestimmter
Hinsicht unverzichtbar zu sein und hat sich daher in erstaunlicher Weise
auch im pädagogischen Milieu als leitender Begriff rehabilitiert (vgl. Tenorth
1997a: 970). Dabei macht gerade auch der Versuch einer Ersetzung des Bildungsbegriffs
durch theoretische Äquivalente deutlich, dass mit ›Bildung‹ etwas
bezeichnet ist, wovon das pädagogische Denken nicht ohne Weiteres ablassen
kann, will es nicht einen Großteil seiner geschichtlich aufgebrachten Themenbereiche
und seines vorhandenen Reflexionsniveaus verwerfen.1 Denn – so erneut
1 Umfassend mit der Renaissance der Bildung befasst sich die zweibändige Herausgeberschrift
»Diskurs Bildungstheorie« (Hansmann/Marotzki 1988a und 1989). Als
Indikatoren zur Untermauerung der These der wiedererlangten Bedeutung von Bildungsbegriff
und Bildungstheorie sprechen aber auch die seit 1989 von Winfried Marotzki
und Otto Hansmann betreute Publikationsreihe »Schriften zur Theorie und Philosophie
der Bildung«, die von der DGfE-Kommission für Bildungs- und Erziehungsphilosophie
herausgegebene gleichnamige Schriftenreihe sowie die Befunde von Ehrenspeck/
Rustemeyer 1997, Rustemeyer 1997: 109ff. und Koller 1999a: 11ff. Eine
»Unerlässlichkeit der Bildung« betont u.a. auch Theodor Ballauff (1993), und das
auch und gerade zu Zeiten der Randständigkeit der Bildungssemantik. Denn so sinnvoll
und wichtig Qualifikation und Sozialisation auch sind, läuft doch die Beschränkung
auf diese auf die Gefahr hinaus, die Freigabe eines jeden Menschen zur ›Selbständigkeit
im Denken‹ aus den Augen zu verlieren und damit das zu unterschlagen,
was Einsicht und Umsicht in eine Welt ermöglicht, in der als Mensch gelebt, die gestaltet
und die verantwortet wird (vgl. Ballauff 1993: 5). Dennoch gibt es bis heute
immer wieder Ambitionen, die Verzicht- oder Substituierbarkeit des Bildungsbegriffs
zu demonstrieren. Vgl. etwa die Versuche von Lenzen 1997 und Masschelein/Ricken
EINLEITUNG | 17
Herwig Blankertz (1974: 66) – »der Sachverhalt selber, wie unterschiedlich er
auch immer gefaßt und bewertet wird, verlangt seine Beschreibung und mit ihr
das Wort, in dem er begriffen ist«. Daher wird auch auf die Argumentationen
klassischer und moderner Bildungstheorien häufig wieder positiv Bezug genommen,
obgleich inhaltlich gesehen die Regeneration von Bildungsbegriff und
Bildungstheorie keine bruchlose Aufnahme traditioneller Theoriebestände darstellt.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Transformationsprozessen in technologischer,
ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht ist vielmehr eine
Novellierung und Neukonturierung im Bildungsdenken auszumachen, die einige
der zentralen Momente der Kritik am Bildungsbegriff berücksichtigt. Neben den
Versuchen, einen Begriff von ›Bildung‹ zu generieren, der zwar einerseits an
traditionelle Bestimmungen anknüpft, sich aber andererseits von deren Normativität
zu lösen versucht, gehört dazu im Wesentlichen die Anbindung des Bildungsdenkens
an erfahrungswissenschaftliche Analysen und die Anerkennung
methodisch kontrollierter Datengewinnung als rechtmäßiges Instrumentarium
zur Bearbeitung aktueller pädagogischer, d.h. hier bildungstheoretischer Frageund
Problemstellungen (vgl. Tenorth 1990).2
In dieser ambivalenten Situation, in der es auf der einen Seite eindeutige
Hinweise für eine Marginalisierung traditioneller Pädagogik bildungstheoretischen
Zuschnitts gibt, auf der anderen Seite aber zugleich eine – wenn auch mitunter
modifizierte – Fortführung eben jenes geistigen Erbes der Pädagogik auszumachen
ist, gewinnt die Frage einer angemessenen Relationierung von Bildungstheorie
und Bildungsforschung an beachtenswerter Aktualität und steht auf
der Agenda erziehungswissenschaftlicher Problemlagen. Wenn und insofern
nämlich die für eine zeitgemäße Erziehungswissenschaft als so notwendig begriffenen
empirischen Anschlüsse in bildungstheoretischen Betrachtungen bislang
noch keineswegs hinreichend erfüllt sind und der Bildungsbegriff sich zugleich
als so bedeutsam erwiesen hat, dass ohne ihn die wissenschaftliche Pädagogik
als unvollkommen erlebt wird, dann bleibt in der Konsequenz kein anderer
Weg übrig, als zu versuchen, Bildungstheorie und Bildungsforschung aufeinander
zu beziehen und den möglichen Problematiken einer solchen Verbindung
Herr zu werden – so wird es zumeist häufig gesehen und mit einigem Recht begründet.
2003, die aus einer system- bzw. intersubjektivitätstheoretischen Sichtweise heraus,
Bildung ihre Geltung abzuerkennen bzw. sie als entbehrlich auszuweisen versuchen.
2 Zu diesen Versuchen siehe des Weiteren Marotzki 1996, Koch/Marotzki/Schäfer 1997
sowie Peukert 2000. In eine andere Richtung weisen hierbei die Überlegungen von
Wigger 1996.
18 | BILDUNG UND BIOGRAPHIE
Nun sind solche Sichtweisen allerdings keineswegs eine Neuentdeckung
gegenwärtiger erziehungswissenschaftlicher Diskussionen, auch wenn sie derzeit
eine neue Dringlichkeit zu erfahren scheinen. Versuche, die es sich zur Aufgabe
machen, »Bildungstheorie empirisch anschlussfähig zu reformulieren, um damit
eine Anbindung der Bildungstheorie an sozialwissenschaftliche Forschung zu
garantieren« (Ehrenspeck 2002: 142), sind im erziehungswissenschaftlichen Diskurs
nämlich bereits seit den 1980er Jahren vorhanden und werden seitdem auch
immer wieder zum Thema gemacht.3 So ist eine »Einbeziehung empirischen
3 Siehe hierzu exemplarisch: Tenorth 1988, Vogel 1991, Miller-Kipp 1992, Sünker
1996, Loeber 1996 und 1997, Tenorth 1997a, Tippelt 1998, Ehrenspeck 2002, Garz/
Blömer 2002, Zedler 2002, Gruschka 2004 und 2006, Sailer 2007, Benner 2008 und
Schluß 2010. Überlegungen, die eine Kombination von Bildungstheorie und Bildungsforschung
verfolgen, sind in den 1970er Jahren auch schon von dem Soziologen
Ulrich Oevermann vorgelegt worden. Zu dessen »Theorie der Bildungsprozesse des
Subjekts« siehe v.a. Oevermann 1973, 1974 und 1976. In den letzten Jahren ist die
Frage des Zusammenhangs zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung auch
verstärkt zum Anlass genommen worden, um auf Tagungen und Symposien darüber
zu diskutieren. Hierzu zählen die interdisziplinäre Ringvorlesung »Wie ist Bildung
möglich?« des Instituts für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik
(IAB) an der Universität Dortmund (vgl. Lünnemann 2001; von Prondczynsky 2006;
Wigger 2009; Fuchs 2010a) sowie die 2004er Herbsttagung der DGfE-Kommission
»Bildungs- und Erziehungsphilosophie« im Universitätskolleg Bommerholz (vgl.
Pongratz/Wimmer/Nieke 2006). Auch das XXXIX. Salzburger Symposium widmete
sich über Pfingsten 2004 diesem Thema (vgl. Bellmann 2004; Heid 2004; Poenitsch
2004a; Wigger 2004 sowie zusammenfassend den Diskussionsbericht von Kellner
2004). Und selbst das XL. Salzburger Symposion kann »als Fortführung des neununddreißigsten
zum Thema ›Bildungstheorie und Bildungsforschung‹ verstanden werden«
(Schönherr 2005: 421), weil es mehrfach auf diese Verhältnisbestimmung zu sprechen
kommt und sie weiterdenkt. Das geschieht aber auch auf der 2005er DGfE-Tagung
»Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung« – dokumentiert in Merkens 2006 –
und auf der 2007er Jahrestagung der Sektion für Pädagogik der Görres-Gesellschaft
zur Pflege der Wissenschaft, die unter dem Rahmenthema »Wozu noch Bildung?«
steht (vgl. Kunze 2007; Poenitsch 2008). Im Übrigen wird sich auch in erziehungswissenschaftlichen
Teildisziplinen gegenwärtig mit der Verhältnisbestimmung von
Theorie und Empirie beschäftigt und hierbei auf allgemeinpädagogische Positionen
Bezug genommen – so etwa auf der Jahrestagung 2006 der DGfE-Sektion Erwachsenenbildung
in Gießen. Vgl. hierzu Wiesner/Zeuner/Forneck 2007; darin v.a. auch den
Aufsatz von Gruschka 2007.
EINLEITUNG | 19
Wissens in den Diskurs der Allgemeinen Pädagogik« (Vogel 1998: 171) angesichts
der »neu entdeckten Liebe zur Empirie« (ebd.) Teil der Bemühung, pädagogische
Theorie an erziehungswissenschaftliche Forschung anzubinden und für
ein verändertes Konzept Allgemeiner Pädagogik fruchtbar zu machen. Deren traditionelle
Themen, die in der Erziehungs- und Bildungstheorie, der Geschichte
der Pädagogik und den systematischen Grundlegungsfragen liegen, werden auf
diese Weise erweitert und ergänzt durch die Verzahnung mit wissenschaftlicher
Forschung empirischer Provenienz (vgl. Vogel 1990). Vor allen Dingen über den
Anschluss an sozialwissenschaftliche Konzepte, »die pädagogische Gegenwartsdiagnosen
ermöglichen und Ansatzpunkte für die Verknüpfung von theoretischen
Diskussionen und die Ingangsetzung von empirischen Studien […] bieten«
(Krüger 1994: 123), werden hierbei Möglichkeiten gesehen, die Wende zu einer
sowohl grundlagen- als auch anwendungsbezogenen Allgemeinen Pädagogik zu
bewerkstelligen. Aus dieser Perspektive heraus demonstriert die Absicht einer
empirischen Unterlegung der Bildungstheorie die umfassenden Modernisierungsbemühungen
der Erziehungswissenschaft nach dem – um einen griffigen
Titel aufzugreifen – »Beginn einer neuen Epoche« (Krüger/Rauschenbach 1994).
Blickt man auf die verschiedenen Schauplätze, auf denen in angesprochener
Weise neue »Konturen Allgemeiner Pädagogik« (Marotzki 1996) zu entfalten
versucht werden, dann dürfte einer besonders stark hervortreten, weil er die Bearbeitung
des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung wohl
mit entschiedenstem Engagement betreibt: Es ist die so genannte »bildungstheoretisch
orientierte Biographieforschung« (Marotzki 1991a). Nicht zuletzt deshalb
wird diese in den derzeit umlaufenden Debatten häufig auch als paradigmatische
Vermittlungsinstanz – regelrecht i.S. einer Mediatorin – hervorgehoben. Sie
greift nämlich den Diametralitätsbefund um Bildungstheorie und Bildungsforschung
auf und versucht anhand biographischer Studien zu demonstrieren, wie
beide ›Kontrahenten‹ dennoch wechselseitig aufeinander zu beziehen sind. Als
spezifische Variante einer an Biographien interessierten Erziehungswissenschaft,
wie sie in den letzten 30 Jahren vor allem durch Dieter Baacke und Theodor
Schulze (1979), Werner Loch (1979), aber auch durch Jürgen Henningsen
(1981) vorangetrieben wurde, verbindet die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung
die autobiographische Erkenntnisabsicht mit der Erforschung
von Bildungsprozessen. Sie kombiniert also gleichsam zwei Fragen miteinander;
nämlich »Wie bin ich geworden, was ich heute bin?« und »Wie ist Bildung möglich?
«. Dabei rekonstruiert die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung
über die Erhebung und Analyse narrativ-autobiographischer Interviews,
einer von dem Soziologen Fritz Schütze (1983 und 1987) aus der Kritik an standardisierten
Befragungen ins Leben gerufenen offenen Interviewform, das Sub20
| BILDUNG UND BIOGRAPHIE
jekt-Welt-Verhältnis und richtet ihren Blick auf biographische Selbstreflexionen,
die Aufschluss über Bildungsprozesse geben können. Sie bedient sich also der
unter Aspekten der Vergleichbarkeit und methodischen Kontrolle stehenden sozialwissenschaftlichen
Verfahren, sodass man sagen kann, dass es ihr darum
geht, »Bildungsprozesse in ihren lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zu
analysieren und der Untersuchung die methodologischen Standards der qualitativen
Sozialforschung zugrunde zulegen« (Koller 1999a: 164). Gleichwohl fungieren
auch hier Biographien als erzählerische Thematisierungen ›gelebten Lebens‹,
die individuelle Erfahrungen auf Aspekte der Selbstkonstituierung und Momente
der Weltkonstruktion hin deuten (vgl. Ecarius 2003: 535). Auf diese Weise richtet
die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung – nicht zuletzt auch
inspiriert von den Arbeiten Rainer Kokemohrs (1985 und 1989) zu einer »Theorie
transformatorischer Bildungsprozesse«4 – ihren Blick auf den Aufbau, die
Aufrechterhaltung und die Veränderung der Welt- und Selbstreferenzen von
Menschen, wobei sie auf bildungstheoretische Theorien und Theoreme gestützt
herausarbeitet, wie es zu biographischen Bildungsprozessen kommt. Mit einer
solchen Vorgehensweise ergibt sich für sie die Möglichkeit, auf dem Gebiet der
Erziehungswissenschaft »bildungstheoretisch elaboriert und zugleich empirisch
differenziert zu arbeiten« (Marotzki 1991a: 129), um so die Konturen Allgemeiner
Pädagogik neu abzustecken: Indem die Bearbeitung des pädagogischen
Gegenstandsbereichs nämlich auf der Basis solider Analysen empirischer Phänomene
erfolgt, wird – so lautet ihr Votum – die »Zweiteilung von Bildungstheorie
als philosophisch bzw. theoretisch entwickelter Ansatz innerhalb der
Allgemeinen Pädagogik sowie Bildungsforschung als empirischer […] Ansatz
zur Erschließung von Wirklichkeit« (Garz/Blömer 2002: 442; Herv. i.O.) aufgehoben.
Beide Bereiche könnten so in ein eigenständiges methodologisches Programm
zusammengeführt werden. Daher wird auch das Konzept der »Biographie
als vermittelnde Kategorie« (Marotzki 1996) verstanden.
Den Grundstein für diese auf Bildungsprozesse fokussierte Forschungsrichtung
der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung hat im Wesentlichen
Winfried Marotzki durch den »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie«
(1990a) gelegt, in der er die Programmatik einer bildungstheoretisch gerahmten
Biographieforschung nicht nur skizziert, sondern sie auch zur Grundlage einer
Einzelfallanalyse macht und damit forschungspraktisch umsetzt. Eine aus der
4 Die Bedeutung der Arbeiten Rainer Kokemohrs für die Hervorbringung einer bildungstheoretisch
orientierten Biographieforschung macht vor allen Dingen der Band
»Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung« von Koller/Marotzki/Sanders 2007
deutlich. Siehe dazu auch Fuchs 2008 sowie das Kap. 1.2.3.
EINLEITUNG | 21
Lerntheorie Gregory Batesons herausentwickelte strukturale Bildungskonzeption
wird in enger Anbindung an die erzähl- und biographietheoretischen Grundlagen
des narrativ-autobiographischen Interviews hierin so gewendet, dass die Eigenkonstitution
subjektiver Orientierungen in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen
Problemlagen als Bildungsprozess vorgestellt wird. Es ist insbesondere
die Verquickung von geisteswissenschaftlich-hermeneutischen mit sozialwissenschaftlichen
Traditionslinien, aus welcher der – wie er von Arnd-Michael Nohl
(2006a: 14) bezeichnet wird – »reflexionstheoretische Ansatz« Marotzkis seine
innovative Kraft schöpft. Die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung
wird dabei zum Schauplatz einer Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung
gemacht (vgl. Marotzki 1991b; Appelsmeyer 1998: 115f.).
Neben Winfried Marotzki hat sich auch Hans-Christoph Koller um eine solche
Spielart erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung verdient gemacht.
Ausgehend von Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie zeigt Koller in
»Bildung und Widerstreit« (1999a) auf, inwiefern die philosophische Auseinandersetzung
mit dem Bildungsbegriff geeignet ist, um Verbindungen zur empirischen
Erforschung tatsächlicher Bildungsprozesse herzustellen. Dazu löst er die
Bildungstheorie Humboldts zuerst aus ihrem positiv teleologischen Geschichtszusammenhang
heraus. Anschließend richtet er den Blick auf die in den sprachphilosophischen
Schriften Humboldts thematisierten Aspekte der Pluralität von
Sprachen. Auf diese Weise ergeben sich – ergänzt durch Überlegungen zu Adornos
Negativer Dialektik – Übergänge zur Philosophie von Jean-François Lyotard,
dessen Widerstreitmodell die Analysen biographischer Bildungsprozesse
sprach- bzw. diskurstheoretisch rahmt und empirisch befruchtet. Mit einer solchen
Interpretationsfolie geht es Koller – die postmoderne bzw. poststrukturalistische
Subjektkritik aufgreifend – in der Auswertung zweier narrativ-autobiographischer
Interviews daher auch um die Analyse von ›Bildung‹ als ein vom Subjekt
dezentriertes Sprachgeschehen des Widerstreits (vgl. Koller 2001; Straub
2002).
Schließlich haben Heide von Felden (2003) sowie Arnd-Michael Nohl
(2006a) ebenfalls Arbeiten vorgelegt, die Bildungstheorie und Bildungsforschung
zu verknüpfen versuchen. Von Felden bezieht in ihrer Studie »Bildung
und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne« (2003) im Kontext der
erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung die Kategorien ›Bildung‹
und ›Geschlecht‹ aufeinander. Auf diese Weise möchte sie zum einen die biographische
Lern- und Bildungsforschung bereichern; zum anderen soll mit der
Entwicklung von Bausteinen einer Bildungstheorie, die Biographie und Geschlecht
integriert, auch die bildungstheoretische Diskussion vorangetrieben
werden. Auf der Basis von Interviews mit Studentinnen eines weiterbildenden
22 | BILDUNG UND BIOGRAPHIE
Studiengangs werden Lern- und Bildungsprozesse sowie Geschlechterkonstruktionen
in biographischen Zusammenhängen analysiert und diese anhand von drei
exemplarischen Fällen verdeutlicht (vgl. von Felden 2002a; Messerschmidt
2004).
Nohl thematisiert den Zusammenhang von »Bildung und Spontaneität«
(2006a), den er aus dem Zentrum einer bildungstheoretisch gerahmten qualitativen
Bildungsforschung heraus über die pragmatistische wie auch biographietheoretische
Kategorie der Wandlung empirisch rekonstruiert und handlungstheoretisch
reflektiert. Dabei wird im Vergleich dreier Lebensalter und handlungsbezogener
Gegenstandsbereiche eine empirisch fundierte Theorie zu den
Phasen spontaner Bildungsprozesse und ihren jeweiligen lebensalterspezifischen
Besonderheiten entwickelt. Das Ziel der Arbeit Nohls liegt in der Bestimmung
der Potenziale spontaner Handlungspraktiken, aus denen heraus sich die Selbstund
Weltbezüge von Menschen jenseits von Zwang, Gewohnheit und Planung
transformieren und so eine neue biographische Sicht auf die eigene Vergangenheit
herstellen (vgl. Nohl 2006b; Fuchs 2006).
Insbesondere mit diesen vier Arbeiten hat die bildungstheoretisch orientierte
Biographieforschung weithin Anerkennung für ihre Leistung finden können. Die
hierin vorgenommenen Verfahrensweisen zur ›Vermittlung‹ von Bildungstheorie
und Bildungsforschung finden breite Zustimmung und vielfältige Anwendungen.
5 Dennoch sind gerade in jüngster Zeit einige Stellungnahmen vorgebracht
worden, die die Möglichkeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung
kritischer sehen und auf eine gewisse Erweiterungs- bzw. Ergänzungsbedürftigkeit
hinweisen. Diese Ausführungen stammen vorrangig aus dem
Umfeld allgemeinpädagogischer bzw. bildungsphilosophischer Reflexion und
konstatieren Theorie- und Begründungsdefizite in Bezug auf die konsultierten
Referenztheorien und die hieraus gewonnenen bildungstheoretischen Argumentationen.
Auch sehen sie Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeit, Ursachen
und Potenziale biographischer Bildungsprozesse zu analysieren und angemessen
zum Ausdruck zu bringen. So wird etwa sowohl die Überbestimmung
von Selbst- und Unterbestimmung von Weltverhältnissen in den vorgelegten
Analysen moniert als auch eine Stärkung des bildungstheoretischen Profils gefordert
(vgl. Wigger 2004, 2006 und 2007). Plädiert wird für eine bildungstheoretische
Auslegung der Biographien unter Einbeziehung sozialer Praktiken der
Anerkennung (vgl. Stojanov 2006a und 2006b). Es wird eine Flexibilisierung der
5 So etwa bei Egger 1995, Son 1997, Brüdigam 2001, Reinhartz 2001, Kilb 2006, Lüders
2007, Brandt-Herrmann 2008, Große 2008, z.T. auch Herzberg 2004, Menz
2007, Reinwand 2008.
EINLEITUNG | 23
theoretischen Analysemittel als notwendig erachtet, welche die Hervorbringung
von ›Neuem‹ nicht als alleinigen Bestimmungsgrund für das Vorliegen eines
Bildungsprozesses deklariert (vgl. Müller 2009). Schließlich wird in rationalitätskritischer
Absicht auch die Frage gestellt, woran man eigentlich festmachen
kann, dass die feinsinnig herausgearbeiteten Veränderungen im Lebensvollzug
tatsächlich bildungswirksame Kraft entfalten und nicht bloß wissenschaftliche
Zuschreibungen i.S. von außen angelegte Identifikationsmerkmale an das Subjekt
sind (vgl. Schäfer 2006a und 2007).
Es sind die mit diesen kritischen Anmerkungen und Rückfragen angesprochenen
Problematiken, die nun deutlich machen, dass die bildungstheoretisch
orientierte Biographieforschung nicht nur keiner wissenschaftlichen Immunität
unterliegt, sondern gar vor einer gewissen Herausforderung steht. Wenn und insofern
nicht das Überhören und Schweigen als Weg des geringsten Widerstands
gewählt wird, wird man sich vor dem Hintergrund solcher Stellungnahmen nämlich
mit der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung intensiv auseinandersetzen
müssen, um Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie es um sie und
ihren Forschungsansatz tatsächlich bestellt ist. Dass dabei dann auch und gerade
ihr programmatisches Kernstück, also ihr Anspruch, Bildungstheorie und Bildungsforschung
zu vermitteln, in den Blick gerät, versteht sich von selbst.
Unter einer solchen Perspektive ist die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung
bislang jedoch allenfalls in zögerlichen Ansätzen betrachtet
worden – nicht aber in gründlicher und ›methodisch kontrollierter‹ Weise. Nur
sehr vereinzelt existieren Studien, die auf die vorgetragenen Anmerkungen zu
reagieren versuchen oder diese dezidiert zum Ausgangspunkt ihrer Reflexion
machen. Und eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den vorgetragenen
Hinweisen findet gerade mal am Rande statt.
Auf den von Lothar Wigger formulierten Hinweis der stärkeren Beleuchtung
von Weltverhältnissen im Rahmen bildungstheoretisch ausgerichteter Biographieanalysen
reagiert so zwar Arnd-Michael Nohl (2006b) in einem Beitrag, in
dem er die »Qualitative Bildungsforschung als theoretisches und empirisches
Projekt« vorstellt. Hierin versteht er die Berücksichtigung kollektiver Dimensionen
in der empirischen Analyse als einen – wenngleich auch nicht erschöpfenden
– Beitrag zur Erhellung der ›Weltkomponente‹ in Bildungsprozessen (vgl. Nohl
2006b: 173 FN 55). Eine überzeugendere bildungstheoretische Anbindung sucht
Nohl indes nicht. Die Hervorbringung von Neuem erhält eine zentrale Bedeutung
für die Untersuchung spontaner Bildungsprozesse. Und auch der Vermittlungsanspruch
der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung wird
nicht in Frage gestellt.
24 | BILDUNG UND BIOGRAPHIE
Wigger selbst, der sich sehr entschieden für die Kritik an der bildungstheoretisch
orientierten Biographieforschung verantwortlich zeichnet, legt ›lediglich‹
knappe empirische Reanalysen zur Studie von Marotzki vor, in denen er habitusund
bildungstheoretische Perspektiven verschränkt, um auf diese Weise Weltverhältnissen
in biographischen Bildungsprozessen auf den Grund zu gehen (vgl.
Wigger 2006 und 2007). Dass dieser Weg, der auf die Habitustheorie Bourdieus
setzt, sich als ein probates Mittel erweist, um im Kontext einer bildungstheoretisch
orientierten Biographieforschung individuelle Weltverhältnisse umfassender
als bislang ins Zentrum des Interesses zu rücken, ist allerdings als sehr fragwürdig
zu bewerten. Will man nämlich dezidiert bildungstheoretische Einsichten
gewinnen, so muss man – wie Koller (2009a: 32) feststellt – »nach den Spielräumen
der Veränderung von Welt- und Selbstsichten« fragen. Das aber lässt die
Theorie Bourdieus gar nicht zu, da sie sich ausschließlich auf die Beschreibung
symbolischer Strategien zur Durchsetzung der je eigenen Sichtweisen im sozialen
Raum beschränkt. Im Rahmen eines erweiterten Ökonomiebegriffs versteht
sie politisch-symbolische Auseinandersetzungen als Kampf um Gewinne oder
Verluste der eigenen Position im Verhältnis zu anderen Akteuren. ›Bildung‹ begreift
sie lediglich als Ressource innerhalb dieses Kampfes um Gewinne und
Verluste. Auch enthält Bourdieus Habitustheorie »keine systematischen Hinweise
darauf, wie im Rahmen solcher symbolischer Auseinandersetzungen Bildungsprozesse
präziser gefasst oder gar empirisch analysiert werden können«
(ebd.). Diese Umstände sprechen dafür, dass die Betrachtung von ›Bildung als
Habitustransformation‹ in eine Sackgasse führt. Überzeugende Perspektiven für
den Umgang mit den aufgeworfenen Kritikpunkten hält sie nämlich nicht bereit.
Die unter Betreuung von Wigger entstandene Dissertation von Gila Brandt-
Herrmann (2008: 69) richtet sich auf eine Stärkung des bildungstheoretischen
Profils biographischer Forschung, indem sie »inhaltliche und damit normative
Aspekte von Bildung für die Analyse von Bildungsprozessen« fruchtbar macht.
Die Orientierung erfolgt dazu – wie in der Arbeit von Koller – an den bildungstheoretischen
Schriften Wilhelm von Humboldts. Dabei wird davon ausgegangen,
dass es unzureichend und verkürzt ist, Bildungsprozesse nur auf der formalen
Ebene von Transformationen der Selbst- und Weltverhältnisse zu erklären,
weshalb konkrete »Indikatoren zur Fokussierung auf bildungsintensive Phasen«
(ebd.: 112) herangezogen werden, um »vergessene Differenzierungen und Reflexionshorizonte
der klassischen Bildungstheorie« (ebd.: 74) zu betonen und
hieran zu zeigen, dass häufig nicht Krisen, sondern Zufälle, günstige Gelegenheiten
und Pro-Aktivität ›bildungsintensiv‹ wirken. Außerdem erfolgt ›Bildung‹
– so macht Brandt-Herrmann in Abgrenzung zu den Arbeiten von Marotzki und
Koller deutlich – eher als Erweiterung bisheriger Orientierungsmuster und nicht
EINLEITUNG | 25
als eine rigorose Transformation von Selbst- und Weltsichten. Auf den Vermittlungsanspruch
der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung geht
allerdings auch sie nicht ein. Ebenso wird das Augenmerk nur bedingt auf die
Möglichkeit der intensiveren Betrachtung von Weltverhältnissen in biographischen
Bildungsprozessen gerichtet. Weltverhältnisse sind letztlich nur »im Kontext
von Persönlichkeitsentwicklung und Pro-Aktivität« (ebd.: 230) wichtig, sodass
hier der Fokus auf den Selbstverhältnissen der Befragten liegt.
In Anbetracht dieser Befunde können zwei Fragebereiche deshalb als weitestgehend
ungeklärt gelten:
(i) Kann das erziehungswissenschaftliche Biographiekonzept zu Recht eine
vermittelnde Kategorie genannt und die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung
als Vermittlerin zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung
bezeichnet werden? Oder stellt eine solche Bezeichnung vielmehr
eine weitere »Pathosformel« (Rieger-Ladich 2002) im pädagogischen Kontext
dar, d.h. ein zwar mit hehrem Anspruch verbundenes Diktum, das sich
bei genauerem Betrachten jedoch lediglich als Geselle der »wohlklingenden
Köder- und Lockvokabeln« (Schirlbauer 2006: 13) erweist?
(ii) In welcher Hinsicht besteht innerhalb der konzeptionellen Ausprägung der
bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ›Entwicklungspotenzial‹?
Was bedarf einer Konkretisierung oder Modifizierung? Inwiefern
lässt sich mit den kritischen Hinweisen so umgehen, dass sie konstruktiv in
das Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung
einfließen können? Worin liegen Herausforderungen und Perspektiven?
Beiden Fragebereichen und dem hiermit zusammenhängenden Komplex von
Problemstellungen widmet sich die vorliegende Arbeit, wozu sie sich – gewissermaßen
korrespondierend zu den beiden skizzierten Fragebereichen – in zwei
konzeptionelle Abschnitte gliedert. Unter der Rubrizierung »Skeptisch-Diskursives
« versucht der aus zwei Kapiteln (siehe Kap. 1 und Kap. 2) bestehende erste
Abschnitt die einzelnen ›Facetten‹ des Problemzusammenhangs im Hin- und
Herlaufen – so die ursprüngliche und etwa von Nikolaus von Kues verwendete
Bedeutung des Wortes ›diskursiv‹ (vgl. Gründer 1995: o.Sp.) – abzuschreiten
und sie sukzessiv zusammenzusetzen. Hier wird nämlich aus der Diskussion um
das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung die Gestalt der bildungstheoretisch
orientierten Biographieforschung prüfend in den Blick genommen
und daraufhin untersucht, inwiefern es ihr gelingt, eine überzeugende
Vermittlung zwischen den beiden Zugängen zum Themenbereich der ›Bildung‹
zu leisten. Dabei werden ihr spezifisches Anliegen sowie ihre vorliegenden An26
| BILDUNG UND BIOGRAPHIE
sätze markiert und eingehend diskutiert. Im zweiten Abschnitt wird dann mit den
Kapiteln 3 bis 6 eine qualitativ-empirische Studie vorgelegt, welche die im ersten
Teil herausgearbeiteten Befunde zum Anlass nimmt, um sich aus biographieund
bildungstheoretischen Überlegungen heraus der Analyse lebensgeschichtlicher
Erzählungen von drei 17- bis 19-jährigen Jugendlichen anzunehmen. Dieser
zweite Abschnitt, der mit »Qualitativ-Empirisches« überschrieben ist, verfolgt
also einen ausdrücklich gegenstandsbezogenen Weg.
Der genaue Aufbau der Arbeit verläuft wie folgt: Das erste Kapitel verdeutlicht
den Konfliktcharakter, der zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung
herrscht (siehe Kap 1.1) und beleuchtet die Ambitionen einer beiderseitigen
Zusammenführung (siehe Kap. 1.2). Die Betrachtung der genealogischen
Grundlagen des leitenden Problemzusammenhangs und die lagediagnostischen
Analysen stellen damit eine Propädeutik für die nachfolgende Untersuchung dar
und geben gleichsam ihren Weg frei. Die Anschauung von ›Vergangenem‹ und
ihre diskursive Entfaltung sollen also – in effigie – so weit auf den vorliegenden
Pfaden verfolgt werden, bis sie aus dem Tal der vergewissernden Ermittlungen
herausführen und den Blick auf das Panorama bildungstheoretisch orientierter
Biographieforschung eröffnen, was im zweiten Kapitel geschieht.
Dieses zweite Kapitel setzt sich nach den Herleitungen nämlich in extenso
mit den einschlägigen Ansätzen bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung
von Winfried Marotzki (siehe Kap. 2.1), Hans-Christoph Koller (siehe
Kap. 2.2), Heide von Felden (siehe Kap. 2.3) und Arnd-Michael Nohl (siehe
Kap. 2.4) auseinander, um zu untersuchen, wie Bildungstheorie und Bildungsforschung
in der Beschäftigung mit biographischen Bildungsprozessen konkret
zusammengeführt werden. Dazu werden die genannten Ansätze nach dem Entwurf
eines ›Analyserasters‹ zuerst in einer Rekonstruktion des Argumentationszusammenhangs
hinsichtlich ihrer Ausgangspunkte und Verfahren dargestellt.
Anschließend werden sie einer skeptischen Prüfung unterzogen. Hierin richtet
sich der Fokus auf die Qualität der jeweiligen Begründungs- und Vorgehensweisen,
die Bildungstheorie und Bildungsforschung miteinander zu verknüpfen beanspruchen.
Auf diese Weise lässt sich verdeutlichen, inwiefern der Vermittlungsanspruch
der vier Ansätze erfüllt ist. Ebenso kann aufgezeigt werden, was
in ihnen – im Großen und im Kleinen – unberücksichtigt geblieben, was als vermeintlich
unproblematisch ausgeblendet oder in den Hintergrund geschoben
worden ist. Abschließende Analysen zu den vier diskutierten Ansätzen der bildungstheoretisch
orientierten Biographieforschung zeigen in einer Gesamtbetrachtung
dann, wie es um ihren Vermittlungsanspruch steht (siehe Kap. 2.5).
Der zweite konzeptionelle Abschnitt der Arbeit, der mittels einer qualitativempirischen
Studie neue Perspektiven der bildungstheoretisch orientierten BioEINLEITUNG
| 27
graphieforschung aufzuzeigen versucht, greift die im ersten Teilabschnitt herausgearbeiteten
Befunde auf und beginnt mit biographie- und bildungstheoretischen
Markierungen. In Auseinandersetzung mit den Konzepten ›Biographie‹
und ›Bildung‹ wird hier die leitende theoretische Folie umrissen. Während die
biographietheoretischen Annäherungen (siehe Kap. 3.1) jedoch lebensgeschichtliche
Erzählungen im Allgemeinen zum Gegenstand haben, wird in den »bildungstheoretischen
Schärfungen« (siehe Kap. 3.2) die Bildung des Subjekts auf
das Jugendalter im Besonderen bezogen. Dabei wird in Auseinandersetzung mit
bildungstheoretischen Schriften von Alfred Petzelt (siehe Kap. 3.2.1), Wolfgang
Fischer (siehe Kap. 3.2.2) und Jörg Ruhloff (siehe Kap. 3.2.3), allesamt Vertreter
einer transzendentalphilosophisch bzw. -kritischen Variante von Pädagogik, ein
Verständnis von ›Bildung‹ erarbeitet, welches das Fragen, Zweifeln und Problematisieren
in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen betont. Auf diese Weise
werden zugleich einige bildungstheoretische Bestimmungen der Jugend deutlich,
die im gegenwärtig vor allen Dingen sozialisationstheoretisch und entwicklungspsychologisch
geprägten Diskurs der Jugendforschung ausgeklammert werden.
Das kurze Kap. 4 bringt daraufhin das für die empirische Studie verwendete
Datenerhebungs- und Auswertungsverfahren zum Ausdruck. Hierin wird im Wesentlichen
auf das Verfahren der Autobiographieforschung von Theodor Schulze
(1997a und 2010a) rekurriert, das gewissermaßen als pädagogischer Gegenentwurf
zur soziologisch motivierten Methode der Erschließung von »Prozeßstrukturen
des Lebensablaufs« (Schütze 1981) Verwendung findet.
Die in der Diskussion der behandelten bildungstheoretisch orientierten Ansätze
der Biographieforschung aufgezeigten Problemlagen sowie die Markierungen
aus biographie- und bildungstheoretischer Sicht führen im fünften Kapitel zu
einer eigenständigen empirischen Untersuchung. Dabei werden lebensgeschichtliche
Erzählungen dreier Jugendlicher unter der generierten biographie- und bildungstheoretischen
Perspektive in den Blick genommen. Diese Erzählungen
wurden als narrative Interviews im Zeitraum zwischen August 2006 und Juni
2009 erhoben. Sie entstammen einem ›Pool‹ aus insgesamt 24 Jugendlichen im
Alter von 16 bis 19 Jahren – also einem Alter, das gängigen Klassifizierungen
entsprechend ein Übergangsstadium von der frühen zur mittleren Jugendphase
darstellt, sofern man die Post-Adoleszenz als späte Jugendphase betrachtet (vgl.
Hurrelmann 2007: 41).6 Die interviewten Jugendlichen, männliche sowie weibliche,
besitzen unterschiedliche Schulabschlüsse, manche von ihnen haben einen
Migrationshintergrund, einige wachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil
auf, mehrere haben Geschwister, andere sind Einzelkinder. Der Fokus auf einen
6 Vgl. die tabellarische Übersicht über die Interviewpartnerinnen/-partner im Anhang.
28 | BILDUNG UND BIOGRAPHIE
bestimmten ›Jugendtyp‹, eine jugendliche ›Normalbiographie‹ oder gar »so etwas
wie eine epochale Generationsgestalt der Jugend« (Fischer 1966a: 131;
Herv. i.O.) erfolgt insofern nicht. Gleichwohl kann auch nicht die gesamte Heterogenität
jugendlichen Lebens berücksichtigt werden. Die Empirie hat vielmehr
insofern einen exemplarischen Status, als sie qua O-Ton die theoretischen Überlegungen
inhaltlich füllt und konkretisiert. Dass sie für die Theorie ›funktionalisiert‹
wird, ist damit jedoch nicht gemeint. Was in den drei ausgewählten Einzelfällen,
dem 18-jährigen Marc (siehe Kap. 5.1), der 17-jährigen Natalie (siehe
Kap. 5.2) und der 19-jährigen Sonja (siehe Kap. 5.3), zur Sprache kommt, ist
zwar – der theoriegeleiteten Fokussierung geschuldet – eine Auswahl. Diese vermag
es allerdings, der Frage nach der Möglichkeit von ›Bildung‹ eine konkrete
Anschauung zu verschaffen und das Profil der bildungstheoretisch orientierten
Biographieforschung zu schärfen.
Im sechsten Kapitel zeigt sich sodann auch, wie die biographischen Analysen
unter der herangezogenen theoretischen Folie in einen übergeordneten, wechselseitigen
Bezug zu bringen sind und damit das Programm der bildungstheoretisch
orientierten Biographieforschung weitergedacht werden kann. Hier wird nämlich
nochmals der Bezug auf die im Verlauf des Kap. 2 herausgearbeiteten Problemlagen
hergestellt und der Ertrag der Untersuchung ausgewiesen.
Der Ausblick versucht nach dem Durchschreiten der beiden Teilabschnitte
der Arbeit – gleichsam metatheoretisch rückwärtsgewendet – die aufgeworfene
Frage einer Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung durch die
bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung erneut zu prüfen. Trotz der
im empirischen Teil der Arbeit entworfenen konstruktiven Perspektiven werden
hier Überlegungen angestellt, die deutlich machen, dass das Spannungsverhältnis
zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung gar nicht zwangsläufig als ein
qualitativer Mangel zu verstehen ist. Es lässt sich nämlich durchaus auch als ein
fruchtbares Konstituens der Erziehungswissenschaft darstellen. Insofern können
diese Analysen schließlich auch skeptisch genannt werden.