Das Programm "(Er-)Leben statt Reden", ursprünglich in der Freizeitpädagogik offener Jugendarbeit angesiedelt, erobert weder still noch heimlich, sondern mit Events und Affairs das Unterrichtsgeschehen der Schulen. Fächer mit offenem Lehrplan und relativ unverschulten Freiräumen wie der RU sind gerne auf diesen Zug aufgesprungen. Was aber ursprünglich als erfahrungsorientiertes, mitbestimmendes Lernen, als pädagogische Suchbewegung und solidarischer Handlungsvollzug mit Schülerinnen und Schülern konzipiert war, droht immer wieder zur Karikatur zu werden. Das liegt an den Rahmenbedingungen.
Erlebnishaftigkeit ist gefragt, die "neue" oder "ganz andere Erfahrung" soll in ein- oder zweimal 45 Minuten nicht vermittelt, sondern möglichst authentisch (also "direkt") gemacht werden: Handeln statt Reden, Erleben statt Diskutieren. Was hier zum offenen oder geheimen Lehrplan avanciert, verdoppelt streng genommen die multimedial inszenierte Erlebnispiste, die sich Jugendliche alltäglich gerne antun (müssen).
Wer selbst unterrichtet, erwischt sich immer wieder in der Rolle des Moderators, dessen Qualität sich daran bemißt, wie geschickt er ein verwöhntes Publikum spontan in möglichst erlebnisdichte Prozesse, interessante Projekte und spannend-aktuelle Aktionen einbindet. Die Konkurrenz ist groß und ebenso die Gefahr, per Abmeldung weggezappt zu werden. Gefragt ist also Themen-hopping. Nur nicht allzu lange verweilen. Der Neuigkeitswert läßt galoppierend nach ("wir wollen das nicht vertiefen"). Dazu kommt, daß der RU besonders in der BS die methodische Eingleisigkeit der anderen Fächer kompensieren muß.
Antizyklisch wirkt der unterrichtliche Versuch, Erlebnisse zu reflektieren den Wahrnehmungsprozeß also zu entschleunigen, um durch Rückbindung (religio) vom Erlebnis zur Erfahrung zu kommen. Voraussetzung dafür ist, daß Schülerinnen und Schüler bei Erlebtem verweilen, ihr Erleben mitteilen, ihre Erlebniswelten miteinander ins Gespräch bringen. Also: Erfahrungen mit der Erfahrung machen.
Mögliche Themenfelder sind (schülernah) alle Aspekte der Fun-Kultur, das Erlebnis Technik, virtuelle Spiel- und Erlebniswelten. Widerständiges Erleben wie das Schicksal eines Swingkids in Nazideutschland (Interview) ergibt den Kontrast zum selbstinszenierten Fun-Abenteuer.
Gegenerfahrungen bieten auch neutestamentliche Wundergeschichten. Vorausgesetzt: Man entdeckt ihre Ereignisdimension religionspädagogisch neu.
Verordnete Erlebnis- und Erfahrungswelten werden hier hinterfragbar. Im Aufstand gegen Alltagsgesetze und im Widerstand gegen Beziehungslosigkeit sind Spielregeln und Normen einer vordergründigen Welt heilsam durchbrochen.
Befreiung ist ein beziehungsdichtes Geschehen. Wen wundert es, daß die vorgebliche Wirklichkeit ausgehebelt werden muß, um Hoffnungsräume aufzuschließen? Vielleicht ist neu zu lernen, daß man nicht jeden Raum selbst betreten muß, um ihn auf sich wirken zu lassen. Die Devise hieße dann: Erzählen statt Erleben (müssen).
Martin Autschbach
Inhaltsverzeichnis
Zu diesem Heft
Martin Autschbach
Mensch-Natur-Technik Steht eine Neuerfindung der Natur an?
Uwe Gerber
"Die Maschine wird uns nicht umbringen"
Bertrand Russell
"Und er stand auf."
Wundererzählungen im RU
Ideen und Versuche zu Mk. 9,14-29
Martin Autschbach
Arbeitsblätter (M3 - M5):
Die Heilung des anfallskranken Knaben/
Eine Wundererzählung als
Beziehungsgeschichte/
Das Thema: "Erlebnis Technik und die biblischen Wunder"
Didaktische Vorüberlegungen
Dietrich Horstmann
Arbeitsblätter:
Erlebnismilieus/ Mein Alltag und
Technik/Was für ein"Typ" sind Sie?/
Vom Erlebnis zur Erfahrung/
Projektidee -.. dann höre ich Musik"/
Psychographics
Mit 160 Sachen gen Himmel
Die schnellste Achterbahn der Welt
Bernd Abesser
Zur falschen Zeit am falschen Ort die falsche Musik gehört
Interview mit Jürgen Discher
Martin Autschbach
Ein Ausflug zur"Movie World"
"Kommt alle zu uns, die ihr verdrossen und gelangweilt seid..."
Annette Schäfer-Roth
Aus der Spalte "Katastrophen"
Annette Schäfer-Roth
Expo-Fassaden Abenteuer eines Non-Sponsors
Annette Schäfer-Roth
Der Pavillon der Hoffnung
Annette Schäfer-Roth
Der Eierfräser Das Mensch-Maschine-System
Andreas Eitz
"Sehnsucht und Ewigkeit" oder
"Spiel mir das Lied vom Tod".
Dirk Schneider
Forum
Harmlos, nutzlos, nicht kostenlos
NLP - Beobachtungen auf dem Psychomarkt - Folge 2
Wolfgang Piechota
Was haben Jugendliche in den Berufsschulen von ihrer Kirche zu erwarten?
Ein landeskirchliches Memorandum 1999
Rezensionen