Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Schon wieder ein Heft zum Thema Migration?“ So denken Sie vielleicht, wenn Sie heute das neue RelliS-Themenheft 2/2017 aufschlagen. „Jetzt erst recht ein Heft zum Thema Migration!“ lautet unsere Antwort als verantwortliche Herausgeber, die das vorliegende Themenheft zusammengestellt haben.
Inzwischen liegt der Beginn der sogenannten „Flüchtlingskrise“ zwei Jahre zurück. Seit dem Frühjahr 2015 haben über zwei Millionen Menschen aus den Krisenländern des Nahen Ostens in Europa Zuflucht gefunden. Manche sagen, die Flüchtlingskrise habe eine Re-Politisierung der öffentlichen Debatte in Europa hervorgebracht, weil nicht nur Regierungen und Parlamente nachdenken müssen, sondern Flucht und Integration das Thema aller geworden sind. Das ist richtig. Da die aktuellen Debatten aber immer noch stark durch irrationale und emotionalisierte Tendenzen geprägt werden, ist gerade auch der Religionsunterricht herausgefordert, das christliche Engagement für Flüchtlinge durch plausible Argumente verstehbar zu machen. Im Schulalltag liegen Licht und Schatten ja oft eng beieinander: Einerseits gibt es simplifizierende Stammtischparolen von Eltern, die de- ren Kinder ungefiltert ins Klassenzimmer tragen. Andererseits gibt es gerade im Religionsunterricht kreative Projekte, die ein- drucksvoll zeigen, wie eine christlich geprägte „Willkommenskultur“ aussehen kann.
Unser Heft versucht mit vier theologischen Grundsatzbeiträgen, Schneisen in das Dickicht der aktuellen Migrationsdebatte zu schlagen. Der Alttestamentler Dominik Markl SJ (Rom) zeigt auf lehrreiche und amüsante Weise, dass nicht nur Flüchtlinge von heute, sondern auch die ersten Menschen der Evolutionsgeschichte vor 40000 Jahren aus Afrika kamen. Sein Beitrag erzählt, dass Flucht und Fremdsein zu den elementaren Erfahrungen der Bibel gehören. Der Islamwissenschaftler Samuel Behloul (Luzern) zeichnet die Religionsgeschichte als Migrationsgeschichte nach und weist den Religionen dabei eine zukunftsweisende Bedeutung für die Rettung der Menschheit zu. Die Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins (Münster) gibt Orientierungen für den christlichen Umgang mit Schutzsuchenden. Dabei zeigt sie auf überzeugende Weise, dass die Grundlagen einer Gesinnung der Aufnahmebereitschaft und die Kriterien der Verantwortung zusammengehören. In seinem religions- didaktischen Artikel schlägt Konstantin Lindner (Bamberg) die Brücke in die Unterrichtspraxis, indem er dazu einlädt, differenzhermeneutische Lernschritte zu gehen, die verschiedene „Stufen zum Verstehen des Fremden“ erlauben.
Im unterrichtspraktischen Teil des Hefts werden verschiedene Lernsequenzen zum Thema Migration vorgestellt: Rainer Lemaire (Köln) setzt bei den biblischen Flucht- und Fremdheitserfahrungen an und versteht Fluchtgeschichten als Lebensgeschichten. Auch Walter Priigger (Graz) nimmt bei der bib- lischen Fluchterfahrung seinen Ausgangspunkt. Unter dem Motto „Fürchtet Euch nichtl“ legt er ein Unterrichtskonzept vor, das zur „Entängstigung“ beitragen möchte. In der Unterrichtssequenz von Benedict Steilmann (Bonn) steht die Fluchtgeschichte von Hamdi, einem 18-jährigen Somalier, im Mittel- punkt, der heute in einer Jugendhilfe-Einrichtung in Deutschland lebt. Florian Meisser und Anne Ulmen (Aachen) lenken den Fokus auf die Fluchtursachen und fragen, was Menschen bewegt, ihre Heimat zu verlassen. Die Lernsequenz von jens Kuthe (Osnabrück) setzt sich mit der Barmherzigkeit als Triebfeder christlichen Handelns in der Migrationskrise auseinander. Astrid Greve (Siegen) präsentiert schließlich ein deutsch-israelisches Austauschprojekt zum Erinnerungslernen, das die biblischen Exodusgeschichten mit gegenwärtigen Fluchterfahrungen ins Gespräch bringt. In der Unterbrechung erinnert Stefan Gärtner (Tilburg) daran, dass Migration ebenso ein Teil vieler Familiengeschichten wie unseres kollektiven Gedächtnisses ist.
Die Tastatur auf dem Heftcover zeigt die Enter-Taste „Flucht“ in der Hoffnungsfarbe Grün. Mögen die Grundsatzartikel und die unterrichtspraktischen Beiträge in diesem Heft dazu beitragen, das Verständnis für die Menschen, die als Fremde zu uns kommen, zu vertiefen. Wir danken den Kolleginnen und Kollegen, die am vorliegenden Themenheft mitgearbeitet haben, und wünschen Ihnen und Ihren Schülerinnen und Schülern spannende Lernsequenzen!
Ihre
Claudia Gärtner, Christian Cebulj
Inhaltsverzeichnis
Editorial 1
Theologische Perspektiven
Dominik Markl
Flucht und Migration
Was sagt die Bibel dazu? 4
Samuel M. Behloul
Migration
Ermöglichungsgrund von und Herausforderung für Religion und Gesellschaft 8
Marianne Heimbach-Steins
Aufnahme von Schutzsuchenden
Migrationsethische Kriterien 12
Konstantin Lindner
Herausforderung Flucht
Religionsdidaktische Überlegungen und Impulse 16
Unterrichtspraxis
Rainer Lemaire
„... denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz“ (Ex 23,9)
Fluchtgeschichten als Lebensgeschichten im Religionsunterricht
(Jahrgänge 5/6) 20
Walter Prügger
Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Migration einst und heute
Biblische und biografische Lernchancen
(Jahrgänge 7/8) 26
Benedict Steilmann
Wenn der Weg mal nicht das Ziel ist …
Perspektivenwechsel: Ein Jugendlicher auf der Flucht
(Jahrgänge 7/8) 34
Florian Meisser/Anne Ulmen
Europa – Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Fluchtursachen und Hoffnungen
(Jahrgänge 9/10) 40
Jens Kuthe
„Gutmenschen“ – Gute Menschen – Gute Christen!?
Barmherzigkeit und Migration
(Jahrgänge 9/10) 46
Astrid Greve
Zachor! Erinnere dich!
Migration als Rettung Gottes
(Jahrgänge 11/12) 52
Unterbrechung
Stefan Gärtner
Der Flüchtling in uns
Migration im kollektiven Gedächtnis 32
REZENSIONEN UND AV-MEDIENTIPPS 58
NACHRICHTEN DES BKRG 62
VORSCHAU 64