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1968 in Westfalen Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung
1968 in Westfalen
Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung




Thomas Großbölting

Reihe: LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte Landschaftsverband Westfalen-Lippe Münster Regionalgeschichte kompakt


Ardey. Verlag für Westfalen
EAN: 9783870234041 (ISBN: 3-87023-404-0)
172 Seiten, paperback, 13 x 19cm, Januar, 2018

EUR 13,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Was tat sich „1968“ in Westfalen? Demonstrationen auf dem Prinzipalmarkt in Münster, Teach-Ins in den frisch gegründeten Universitäten von Bielefeld und Bochum, besetzte Häuser, Frauenzentren und -buchhandlungen, Landkommunen – der Fantasie der jungen Menschen und der neuen Bewegungen waren auch in der Provinz kaum Grenzen gesetzt. Die Bildungspolitik und die innere Verfassung der Bundesrepublik gehörten nicht nur in der Uni und im Klassenzimmer, sondern auch auf dem Bauernhof und in den Fabriken zu den diskutierten Themen. Rock- und Popmusik, Jeans und lange Haare, eine neue Lockerheit zwischen den Generationen und im Umgang mit Autoritäten – vor allem die Veränderungen der Alltagskultur sind bis heute präsent.



Thomas Großbölting beschreibt diese Entwicklungen sowie die Kritik daran und fragt zugleich nach den Folgen des politischen und kulturellen Aufbruchs für die heutige Gesellschaft.
Rezension
50 Jahre nach der kulturellen Revolution von 1968 wird weiter über die Deutung dieses Jahres gestritten, weniger in der Geschichtswissenschaft als in der politischen Öffentlichkeit. Während die einen die 68er idealisieren, perhorreszieren andere, insbesondere auf Seiten des politisch rechten Spektrums, alle Beiträge der 68er. Die Interpretation dieser Zäsur bundesrepublikanischer Geschichte wird also wesentlich durch das politische Selbstverständnis bestimmt, ist geschichtspolitisch motiviert. Die historische Forschung, in der sich eine differenzierte Historisierung von 1967/68 zeigt, hat sich bisher auf die Metropolen von San Francisco, Paris, Prag konzentriert, in Bezug auf die BRD auf Berlin, Frankfurt oder München. Der Verlauf der Kulturrevolution in Städten ländlicher Regionen und seine Auswirkungen auf die „Provinz“ war dagegen bisher kaum Gegenstand ausgedehnter regionalgeschichtlicher Studien.
Für die „Provinz“ Westfalen hat dieses nun erstmals Thomas Großbölting mit seinem Buch „1968 in Westfalen“ geleistet. Der Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gibt u.a. differenzierte Antworten auf folgende Fragen: Welches waren die Akteure der Kulturrevolution in Westfalen, welche Ziele verfolgten sie und wie agierten sie im Jahr 1968? Konkreter, gab es einen Zusammenschluss von Studierenden an den westfälischen Universitäten, der Münsteraner Traditionsuniversität sowie an den Hochschulneugründungen in Bochum, Dortmund, Bielefeld und Paderborn, mit Schülern und Lehrlingen? Welche Rolle spielten für die Formen der Mobilisierung und des Protestes der 68er-Bewegung in Westfalen sowohl internationale politische Entwicklungen und Ereignisse wie der Vietnam-Krieg, die Ermordung von Martin Luther King, der „Prager Frühling“ als auch Ereignisse in der BRD wie die Ermordung von Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke, die Proteste an der geplanten Verabschiedung der Notstandsgesetze? Welche kurz-, mittel- und langfristigen Auswirkungen hatte die Protestbewegung auf die Region Westfalen? Genauer, welche soziokulturellen Veränderungen lassen sich in Westfalen nachweisen?
Souverän wertet Großbölting dazu die historischen Quellen und die vorhandene Sekundärliteratur aus. Seine ausgewogenen Erkenntnisse präsentiert der Historiker kompakt in einer gut verständlichen Sprache. Dabei gelingt es ihm in hervorragender Weise, die westfälische Regionalgeschichte des „langen 1968“ in den internationalen und bundesrepublikanischen Kontext einzubetten, so dass sein Buch zugleich eine sehr gute Einführung in die Kulturrevolution von 68 auf aktuellem Forschungsstand bietet. Dabei erfahren Leser etwa von den Flugblattaktionen und Demonstrationen der Studierenden in Bochum und Münster als Reaktion auf das Attentat auf Dutschke, einer kapitalismuskritischen Parodie auf das Vaterunser in der Schülerzeitung des Coesfelder Traditionsgymnasium, dem Beitrag der Studierendengemeinden zur Pluralisierung, der Gründung des Bielefelder Arbeiterjugendzentrum 1972 als eines der ersten autonomen in der BRD, der Rolle Hagens als ein Zentrum der Pop- und Rockmusik in 1970er Jahren, der Bedeutung linker Buchläden in Westfalen, der Eröffnung des Frauenzentrums in Bielefeld 1973, der Gründung der Frauenpartei in Warendorf 1979 sowie den Hausbesetzungen in Münster. Besondere Erwähnung verdient das Streitgespräch zwischen Rudi Dutschke und Johannes Rau auf Einladung des „Aktuellen Forums Wanne-Eickel“ im Februar 1968 in Wattenscheid über die Leitfrage „Sind wir noch Demokraten?“. Von dieser ungefähr 150 Minuten andauernden Diskussion hätte man im Buch gern mehr über die Argumente und Gegenargumente der Gesprächspartner erfahren. Großbölting konstatiert in seinem Werk, dass in Westfalen weniger spektakuläre Ereignisse des kurzen Sommer 68 zu einer Liberalisierung und Modernisierung der Gesellschaft führten - nachweisbar an einem Wandel des Verhaltens und der zunehmenden Orientierung an Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität - als eine Vielzahl von Konflikten und Protesten, in denen gegenkulturelle Positionen zum Ausdruck kamen.
Das Buch „1968 in Westfalen“, das auch durch seine Fotoauswahl überzeugt, kann allen an westfälischer Regionalgeschichte Interessierten empfohlen werden, insbesondere aber Lehrkräften, die in Westfalen das Fach Geschichte problemorientiert unterrichten und zur Förderung eines kritischen Geschichtsbewusstseins beitragen möchten. Sie werden durch das Werk von Großbölting motiviert, Projekte zum „langen 1968“ in ihrer Region durchzuführen, in denen die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel Zeitzeugen befragen, Zeitungsartikel recherchieren, Fotos sichten, um sich auf dieser Reise in der Vergangenheit der kulturellen und politischen Errungenschaften der 68er zu vergegenwärtigen - gerade angesichts einer global zunehmenden Orientierung an „Retrotopien“(Bauman). Dem „Ardey“-Verlag, in dem mit dem „WestfalenSpiegel“ auch Westfalens renommierteste Kulturzeitschrift erscheint, kommt mit dem ersten Band der neuen Reihe „Regionalgeschichte kompakt“ des „LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte“ das Verdienst zu, fundierte historische Erkenntnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und somit einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis einer Region zu leisten.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Warum wir nach "1968" in Westfalen suchen - zur Einleitung 7
Was war "1968"? Forschungsfragen und Forschungsstand 18
Wo liegt "1968" in Westfalen? Der Gang der Untersuchung 22
I. Von der Greater Bay Area nach Westfalen: Ereignisse, Akteure und Dynamiken des Protests 27
Internationale Anstöße und nationale Ereignisse: Hintergrund und Schrittmacher des Protests 28
Protesttraditionen in Westfalen 33
Start"schüsse": Der Tod von Benno Ohnesorg, der Anschlag auf Rudi Dutschke und die Reaktion in Westfalen 36
Höhe- und Endpunkt der "Osterunruhen": Der Widerstand gegen die Notstandsgesetze 49
II. Akteure und Bewegungen im Jahr "1968" und danach 59
"Bildungsnotstand" und "Demokratisierung der Universitäten": "1968" als Hochschulprotest 59
"1968" in den (Sozialisations-)Institutionen: Von Schülern, Lehrlingen und Konfirmanden 71
Formen und Stile des "langen 1968": Politik und Partizipation, Popkultur und Lebensstil 88
III. Räume der Gegenkultur 108
"Marx und Moritz": Linke Buchläden als Zentren alternativen Lebensstils 108
Vom "Weiberrat" zum Frauenhaus: Mittel- und Langfristwirkungen von "1968" am Beispiel der neuen Frauenbewegung 115
"Wir brauchen keine Hausbesitzer, denn die Häuser gehören uns". Von Wohngemeinschaften, Kommunen und Hausbesetzungen 126
Warum Westfalen seit "1968" anders ist - ein Resümee 137
Anmerkungen 147
Abkürzungen 158
Literaturverzeichnis 160
Bildnachweis 170
Ortsregister 171